Überlegungen zur eigenen Praxis in einer überfüllten Yogastunde.

Wir klingeln um 19:15 Uhr an der Tür. Es ist Montag Abend in einem der angesagteren Stadtteile Berlins. Neben mir und meiner Freundin stehen noch drei weitere Mädels, die ihre Yogamatte unter den Arm geklemmt haben. Einen Moment lang erhalten wir keine Antwort. Ein kurzer Anflug von Panik tritt zwischen den anderen ein: Verdammt, ob es schon wieder zu voll ist und sie deshalb niemanden mehr rein lassen? Dabei beginnt die Stunde erst in 15 Minuten. Kurz darauf ertönt der Buzzer und die Tür geht auf. Puh, doch noch geschafft.

Im Treppenhaus zwei Etagen höher türmen sich die Schuhe auf und neben dem Regal. Im Raum selber sind neben der Tür alle Kleiderhaken doppelt und dreifach mit Klamotten, Taschen und Jacken belegt. Ich schaue mich um, frage mich kurz, wo wir überhaupt noch hin sollen, und nehme dann doch noch ein Plätzchen zwischen zwei anderen ein, die ein paar Zentimeter zur Seite rücken. Zwischen unseren Matten ist zwei Finger breit Platz.

Der Raum ist lang, die Decken hoch. Zum Glück gibt es direkt vor mir eine weite Fensterfront. Schräg gegenüber hat der Yogalehrer seine Matte ausgebreitet. Ein kleiner, schmächtiger Mann mit Nasenpiercing, sanfter Stimme und ausgeprägtem französischen Akzent. Ziemlich ernst sieht er aus.

Geringelte Leggings, Tattoos, Rastazöpfe, Piercings, Heavy Metal Band T-Shirts sehe ich vage im Raum verteilt. Nichts Ungewöhnliches also. Auch nicht für diese Altersgruppe oder den Stadtteil. Ich bin zum ersten Mal hier, gespannt und ein bisschen aufgeregt. Selten habe ich an einer so dicht besetzten Yogastunde teilgenommen, bei der ich weder Lehrer noch Teilnehmer kannte.

Die Vinyasa Stunde die nun folgte, war nicht anders als das, was ich in verschiedenen Studios schon mitgemacht hatte: schnell, dynamisch und fordernd. Mit einem ruhigen Anfang und Ende. Was mich jedoch die Stunde über nicht losließ war dieser Gedanke, wie schwer es doch sein kann, in einem so vollen Raum wirklich nach „innen“ zu gehen. Das, was um einen herum passiert, in den Hintergrund versinken zu lassen und die eigene Praxis und das Erlebnis davon wirklich in den Mittelpunkt zu bringen.

Und der zweite Gedanke war das Paradox, dass eigentlich jede Yogastunde mit sich bringt: die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, obwohl man in einer Gruppe ist. Natürlich können Partnerübungen das Miteinander einer Klasse verstärken, doch liegt der Fokus hauptsächlich auf dem Introspektiven, seinen eigenen Körper und Atmung beobachten und spüren – was noch durch das Schließen der Augen verstärkt werden kann.

Um mich herum atmen, bewegen sich und schwitzen ca. 30 Menschen, Unbekannte. Unterschiedliche Leute im Raum seufzen etwas lauter und affektierter als ich es gewohnt bin. Ich verdrehe im Herabschauenden Hund reflexartig die Augen. Gleichzeitig fällt es mir schwer, nicht gucken zu wollen, nicht wissen zu wollen, wie das bei den anderen aussieht, was sie da machen, und vor allem interessiert mich eins: wieso habe ich das Gefühl, dass die Atmosphäre angespannt ist?

Natürlich liegt es auch an mir: der Teil, der als Yogalehrerin tätig ist, will wissen, wie es die Anderen unterrichten, worauf sie achten, wie sie Dynamik und Ruhe in die Klasse bringen. Und wie Yogastunden in anderen Studios, anderen Städten und Kulturkreisen funktionieren. Die Globalisierung hat eben nicht nur H&M in jede europäische Stadt gebracht, sondern auch Yogastudios.

Einige Male innerhalb der 90 Minuten vibriert ein Telefon. Nicht sehr laut, aber doch merklich. Und das funktioniert für mich als Symbol für die Stunde, ich verstehe, was mich eben verunsichert hat: Das, was normalerweise für mich während Yogastunden draußen bleiben sollte, hat sich hier mit eingeschlichen.

Gerade durch das Klischee, dass sich in meiner überzeichneten Darstellung erfüllt, werden Aspekte noch deutlicher, die mir schon vorher in anderen Yogaklassen begegnet waren. Eben weil Berlin so lebendig ist, viele neue Bewohner der Stadt so hip und jung, aber eben auch oft hyperaktiv und ruhelos sind, dient wohl dieses Bild so gut als Beispiel für meine Argumentation.

Im Alltag hat man oft das Gefühl, immer funktionieren zu müssen. Dinge erledigen, arbeiten, kreativ sein, innovativ und dabei auch noch attraktiv sein. Und das beschränkt sich inzwischen keineswegs auf die Arbeitswelt. Von den Menschen um uns erhoffen wir uns (zumindest ein bisschen) Anerkennung für das, was wir sind und tun. Durch die Kleidung, Freunde, Orte, die wir in der Freizeit besuchen, signalisieren wir viele unterschiedliche Dinge, auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und/ oder Altersklasse.

All das – so dachte ich – sollte man in der Yogastunde draußen lassen können. Dabei ist mir ganz klar, dass Yoga auch elitär sein kann. Nicht jeder kann es sich leisten, sowohl zeitlich als auch finanziell, Yogastunden zu nehmen.

Trotzdem habe ich das idealisierte Bild, dass man den Raum betritt, in dem man mit anderen Menschen – Unbekannten – Yoga praktiziert, und viele Dinge für die Dauer der 90 Minuten draußen aussperrt. Darunter liegt an höchster Stelle eben diese Anspannung, die der Leistungsdruck erzeugt.

Es ist egal, wie laut mein „OM“ ist, wie tief ich mich über meine Beine vorbeugen kann, wie lange ich in einer Balance-Haltung stehen kann oder mit geschlossenen Augen reglos dasitzen. Von den so genannten Fancy-Poses ganz abgesehen. Es ist auch egal, wie groß oder klein, dick oder dünn, was für eine Leggings ich trage, ob und wie ich tätowiert bin und ob ich mich vegetarisch ernähre oder nicht. Grundsätzlich ist es auch noch gleichgültig, ob ich bei der Bank arbeite oder gerade arbeitslos bin. Das alles sollte in dem Moment unwichtig sein.

Für die Dauer der Yogapraxis bin ich Anwesenheit, bin ich Aufmerksamkeit, bin ich in einigen Momenten und an guten Tagen sogar Ruhe und Gelassenheit. Ich bewege meinen Körper, weil es mir gut tut, auch wenn nicht jede Position gleich angenehm ist. Ich gehe in einen Flow – wie es der Lehrer an dem Tag nennt – , weil die Bewegungen mir Energie geben, mich stark machen und mich herausfordern. Aber ich gehe auch mal zwischendurch in die Kindhaltung und ruhe mich aus, weil ich ganz einfach mal eine Pause brauche.

Mitten in einer großen Gruppe zu sein verleitet mich aber doch dazu, um mich zu schauen (wie sollte ich auch nicht, wenn das Knie meiner Nachbarin immer wieder auf meiner Matte landet). Die Menge zieht einen mit, man macht vielleicht doch ein Vinyasa mehr als sonst. Vielleicht geht man in der Vorbeuge doch ein bisschen tiefer. Hält eine Position ein bisschen länger. All das ist prinzipiell gut. Aber ich muss mich immer wieder fragen: Übersehe ich dabei meine eigenen Grenzen? Bin ich dazu verleitet, mich mit anderen zu messen, etwas zu repräsentieren, was ich gerne verkörpern möchte? Oder bin ich abgelenkt, weil ich besonders kritisch den Nacken meiner Nachbarin in einem Twist begutachte, der nicht sonderlich „weit und frei“ aussieht, wie unser Lehrer gerade angesagt hat?

Es ist an sich schon seltsam, die Menschen um sich herum ignorieren zu wollen: Selbst wenn mein Blick nicht in deren Richtung geht, so spüre ich doch die Präsenz derjenigen, die um mich sind. Blick, Gehör und all die anderen Sinne verbinden mich und meinen Körper mit der Außenwelt. Ich bin auf sie angewiesen, um mich im Raum zu orientieren und den Anweisungen folgen zu können. Ein stückweit kann ich sie nach innen richten, trotzdem wehren sie sich, werden beansprucht oder abgelenkt. Sie sind schließlich dafür vorgesehen, vorwiegend „nach außen“ zu gehen. Verstehe ich beispielsweise nicht, was der Lehrer sagt, so drehe ich mich zu einer meiner Nachbarinnen und imitiere sie. Wird das Ohm angekündigt, orientiere ich mich an der Stimme der anderen und schließe mich an.

Yoga besteht also vielmehr aus „nebeneinander“ als miteinander. Friedliches, rücksichtsvolles nebeneinander. Bei dem der oder die Nachbarin nicht gewertet wird. Ähnlich wie (idealerweise) in Bus und Bahn oder an anderen öffentlichen Orten, an denen ich tagtäglich fremden Menschen begegne. Ist das ein Widerspruch, wenn doch im Yoga – soweit ich das verstehe – Mitgefühl, Gewaltlosigkeit und Achtsamkeit gelehrt werden?

Wiederholen sich im Yoga dieselben Muster wie im Alltag, überwältigt mich das Gefühl, dass ich weniger davon habe. Auf jeden Fall habe ich dann weniger Spaß an der eigenen Praxis. Dabei möchte ich in der Yogapraxis einen Raum finden, der mich so sein lässt, wie ich Off Duty bin. Wo ich entspannen, mich im übertragenen Sinne „zurücklehnen“ kann. Ohne Angst vor fremder Wertung, ohne mich messen zu müssen. Das bedeutet jedoch auch vertrauen und loslassen zu können.

Aber vielleicht lautet die Frage anders herum: wieso trenne ich zwischen dem, was in- und außerhalb des Yogaraums geschieht? Würde diese Gelassenheit, diese Möglichkeit, sich „zurückzulehnen“ immer und überall vorhanden sein, wäre unsere Lebensqualität immer und überall auch höher. Und ich würde im Alltag vielleicht gar nicht so oft das Verlangen verspüren, mich zurück zu ziehen oder in eine Yogastunde zu gehen, um dies tun zu können.

Jetzt, am Ende von diesem Text angelangt, hinterfrage ich meine ursprünglichen Gedanken und frage zurück: soll Yoga dazu dienen, uns einen abgegrenzten Raum zu bieten, in dem wir uns entspannen können? Oder sollte es nicht vielmehr umgekehrt sein: dass wir die Gelassenheit, die wir in einer Yogastunde erleben, in all unsere Lebensgebiete übertragen?

Wenn das möglich ist, dann ist Yoga doch mehr als nur eine der Aktivitäten, die wir am Tag verrichten und von unserer To-Do-Liste streichen. Dann wird Yoga auch nicht von dem System instrumentalisiert, in dem wir die ganze Zeit nur „funktionieren“ sollen. Weil es dann eben nicht dafür da ist, Energie zu tanken, um danach direkt wieder los powern und endlos weiter machen zu können.

Während dem Yoga gehe ich „nach innen“, bin aber unvermeidbar mit den Sinnen nach außen gerichtet. Und das ist auch gut so. Ich plädiere nicht für leere Yogastunden, weite Räume ohne andere Menschen, sondern vielmehr dafür, den ganzen Rest draußen zu lassen. Taschen, Telefone, aber auch Vorurteile (wie meine eigenen), Wertungen und zu viel Ernsthaftigkeit und Anstrengung. After all, it’s just Yoga!

Text: Johanna