Tief durchatmen
„Atme mal tief durch“ oder „lass mal die Luft raus“ sind Sätze, die man immer mal wieder gesagt bekommt oder hört. Doch bergen diese ‚Sprichwörter‘ vielmehr Weisheit und Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheinen mag, verdeutlichen sie doch, dass auch in unserem Sprachgebrauch der Atmung mehr Bedeutung zugeschrieben wird, als der Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid.
Auch in der Tradition des Yoga und des Ayurveda wurde die Bedeutung der Atmung erkannt und studiert. Anleitungen und Lehren dazu wurden entwickelt, die mit dem Sanskritwort Pranayama bezeichnet werden.
Pranayama setzt sich aus den beiden Wörtern Prana und Ayama zusammen. Prana bedeutet „vitale Energie“ oder auch „Lebensenergie“, während Ayama „Expansion“ und „Ausweitung“ bedeutet. Bei der Praxis von Pranayama geht es also um die bewusste Einflussnahme auf den Atemfluss, mit dem Ziel der Vertiefung und Erweiterung.
Doch wozu sollte man Einfluss auf die Atmung nehmen, ist dies doch eine Körperfunktion, die ganz automatisch vom Körper gesteuert wird.
Leider kennen viel zu viele Menschen das Gefühl von Enge im Brustkorb, spüren, dass die Atmung schnell und oberflächlich ist und man den Eindruck hat, nicht wirklich zur Ruhe zu kommen und entspannen zu können. Ganz im Gegensatz zu Babys, die scheinbar förmlich mit ihrem ganzen Körper atmen und man deutlich das Heben und Senken des Brustkorbs und Bauchs sehen kann.
Im Yoga und Ayurveda geht man davon aus, dass unsere körperliche und geistige Verfassung einen direkten Einfluss auf unser Atemverhalten hat, als auch umgekehrt Atmung unser Wohlbefinden beeinflusst.
Stress, Belastung, Angst und Sorgen haben zur Folge, dass die Atmung schneller wird und im oberen Bereich der Lunge stattfindet. Es ist eine natürliche Reaktion des Körpers bei ‚Gefahr‘.
Natürliche Atmung ist hingegen frei, weit und tief, die Einatmung ebenso lang und intensiv wie die Ausatmung, ein beständiger Fluss, ganz natürlich, ohne Anstrengung, Eile und Anspannung. Ein solcher Rhythmus signalisiert dem Körper Sicherheit und so kann auch Entspannung stattfinden.
Wer schon einmal Yoga praktiziert hat, wird sich daran erinnern, dass der Lehrer immer wieder darauf hinweist, tief zu atmen. Ziel ist es, das Bewusstsein für den eigenen Atemfluss zu schärfen und einen ruhigen, beständigen Rhythmus zu finden.
Die Atmung ist eine direkte, ständig zugängliche Möglichkeit, unser Wohlbefinden zu überprüfen und zu beeinflussen. Nur ein paar tiefe und bewusste Atemzüge schaffen eine Veränderung!
Es gibt unzählige verschiedene Atemtechniken. Jedoch geht es bei allen darum, mehr Raum zu schaffen. Im Rahmen der individuellen Möglichkeiten muss jeder sein eigenes Tempo und seine eigene Balance finden. Niemals sollte man bei dem Versuch, „tief zu atmen“ das Gefühl haben, nach Luft schnappen zu müssen, da man die Atmung über ein gesundes Maß hinaus verlängert hat. Es geht um Freiheit und Natürlichkeit.
Eine der grundlegendsten Atemübungen ist SAMAVRITTI (gleichmäßige Bewegung). Auf den ersten Blick scheint es einfach, geht es doch lediglich nur darum, die Einatmung als auch die Ausatmung gleichmäßig geschehen zu lassen. Ziel ist es, die Qualität und Quantität der beiden Atemhälften auszugleichen.
Versucht man es, wird man wahrscheinlich feststellen, dass man eine Präferenz für einen Teil des Atemzyklus hat. Bei manchen scheint die Einatmung spielerisch, während die Ausatmung stellenweise stockt und nicht so tief ist. Bei anderen stimmt das genaue Gegenteil. Darüber hinaus neigen die meisten Menschen dazu, in der ersten Hälfte der Einatmung ca. 2/3 des Atemvolumens aufzunehmen, während in der zweiten Hälfte der Einatmung kaum noch Sauerstoff aufgenommen wird. Das Gleiche gilt meist für die Ausatmung.
Um Samavritti zu üben, nimmt man eine beliebige Position ein, die bequem ist und dem Oberkörper den größtmöglichen Raum verschafft. Sobald man eine angenehme Haltung gefunden hat, wird für einige Augenblicke der momentane Atemrhythmus beobachtet, ohne etwas zu verändern.
Nach einigen Minuten beginnt man dann damit, die Ein- und die Ausatmung von Länge und der Intensität so gut als möglich anzugleichen. Wichtig dabei ist, dass auch das Atemvolumen gleichmäßig ist. Üblicherweise ist die erste Hälfte der Ein- sowie der Ausatmung stärker als die zweite Hälfte (zum besseren Verständnis: nach 10% der Zeit sollte man 10% des Atemvolumens, nach 50% der Zeit sollten 50% des Atemvolumens usw. aufgenommen bzw. abgegeben worden sein). Sollte man ein Ungleichgewicht bei sich feststellen, versucht man den ersten Teil der Atmung sanfter werden zu lassen und den zweiten Teil zu betonen, so dass sich mit der Zeit ein gleichmäßiger Atemfluss einstellt.
Diese Atemübung kann für 10-15 Minuten praktiziert werden. Die Wirkung ist beruhigend.
Versuchen dein Bestes, aber nur im Rahmen dessen, was sich gut anfühlt. Nach Pranayama sollte man sich gut fühlen. Dies kann nur gelingen, wenn man im Rahmen dessen übt, was möglich ist. Sobald die individuellen Grenzen missachtet werden, ist Stress die Folge.
Wenn man sicher immer wieder eine Auszeit gönnt, um Atemübungen zu machen, wird man sich des eigenen Atemrhythmus gegenüber im Alltag deutlich bewusster sein. Man wird merken, welche Situationen einem im wahrsten Sinne des Wortes „die Luft rauben“ und bei welchen man Raum spürt und tief atmen kann.
Einige Minuten Pranayama haben eine tiefe Wirkung auf das allgemeine Wohlbefinden und sind sicherlich eine der einfachsten Möglichkeiten, den Körper bewusst wahrzunehmen, zu spüren und zu unterstützen.
Also, einfach immer wieder tief und frei durchatmen! Gib Deinen Körper Zeit und Raum sich zu weiten, Lebensatem aufzunehmen und zu expandieren, um dann mit der Ausatmung komplett loszulassen, die Leere und damit verbundene Stille zu spüren, bevor der neue Atemzug, der neue Moment ganz natürlich beginnt.