Die Mitte finden – Die Balance zwischen Kraft und Sanftheit 

von Nicole Konrad

stira sukham asanam
Asanas sollen gleichermaßen die Qualitäten Stabilität und Leichtigkeit aufweisen.

Yogasutra 2.46

Stabilität und Leichtigkeit, scheinbar ein Widerspruch. Laut dem Yogasutra soll ein Asana beide Qualitäten aufweisen: zum einen Festigkeit, Fokus und Bestimmtheit, und zum anderen Sanftheit, Freiheit und Offenheit.

Die Vereinbarkeit scheint schwierig, da beide Qualitäten sich vermeintlich  gegensätzlich gegenüber stehen. Wie ist es möglich einen Ausgleich zu finden? Wie kann man dieses Gleichgewicht, den Tanz von Expansion und Kontraktion bewusst gestalten und eine Praxis schaffen, die Balance schafft? 

Eine Lektion zu diesem Thema war für mich Eka Pada Koundiyanasana I. Diese Position wollte nie gelingen, je mehr ich mich anstrengte und bemühte, desto instabiler und schlechter wurde das Ergebnis. Ich dachte, es liegt daran, dass die Kraft nicht reicht, Festigkeit und Stabilität in der Position fehlten. Jedoch war es das genaue Gegenteil. Sanftheit und Loslassen waren die Qualitäten, die fehlten und die mir verwehrten, zu schweben. Mein Körper war so angespannt, so fokussiert, dass ich nicht „fliegen“ konnte. Zufällig sah ich in einem Video, dass John Friend (Anusara Yoga), in dieser Position sagte: „melt your heart, let go“. Darin lag der Schlüssel. Sobald ich entspannte, meinen Oberkörper sanft werden ließ, war die Position möglich.
Durch dieses Asana verstand ich, dass für Anmut und Harmonie Balance erforderlich ist. Fokus ist ebenso notwendig wie Hingabe, Expansion ebenso wie Kontraktion, Bestimmtheit ebenso wie Akzeptanz. 

Die Natur ist voller Beispiele vom natürlichen Bestreben nach Balance. Alle Kräfte streben den Zustand von Ausgewogenheit an, eine chemische und physikalische Gesetzmäßigkeit. Auch die Atmung ist ein Beispiel dafür. Die Einatmung öffnet den Körper, der Brustkorb weitet sich, der Körper nimmt Prana (Lebensenergie) auf. Die Atmung strömt in den Körper, erdet, bringt Lebendigkeit, Raum, Weite und Kraft.
Mit der Ausatmung entspannen die für die Atmung zuständigen Muskeln, der Körper lässt los, wird sanft und ist in dem Moment der Leere – kurz bevor der neue Atemzug beginnt – in Stille. Es ist ein beständiger Tanz, ein Wechsel zwischen aktiv und passiv, zwischen Anspannung und Entspannung. 

In jedem Asana können ebenfalls beide Qualitäten gefunden werden. 
Um ein Asana zu entfalten, muss zuerst eine stabile Basis geschaffen werden. Das Körperteil, das den Boden berührt, muss sich kraftvoll verwurzeln, breit und stabil Richtung Boden ziehen. Die Muskeln müssen aktiviert werden, um die Position von Grund auf zu stabilisieren und zu festigen. Der Rest des Körpers wird in gleicher Weise über der bestehenden Basis ausgerichtet, ebenso kraftvoll und sorgsam. 
STIRA bedeutet, das Fundament zu schaffen, mit Absicht und Bestimmtheit die Position aufzubauen, aufmerksam zu beobachten, Mut und Unerschütterlichkeit, Zuversicht und Kraft zu etablieren. Es ist ein Gefühl von kraftvoller Mitte, Verwurzelung und Stärke.

Gleichzeitig ist Yoga Expansion, Weite und Raum. Aus der starken Mitte kann Energie nach außen zur Peripherie des Körpers fließen. Auch wenn der Körper kraftvoll ist und man „hart“ in dem jeweiligen Asana arbeitet, bedarf es ebenso der Gefühle Freiheit, Raum, Sanftmut und Hingabe: SUKHA. Es bedeutet zu akzeptieren, zufrieden zu sein mit dem was ist, mit mir, meinem Körper, der Position und dem Moment. Es ist ein Gefühl, sich in alle Richtungen zu strecken, zu öffnen, Barrieren und Blockaden gehen zu lassen. Dies bedeutet Leichtigkeit zu finden, die eigene Kreativität, den eigenen individuellen Ausdruck in dem jeweiligen Moment zu leben. 

Jede Situation in unserem Leben erfordert Balance.

Fokus, Beständigkeit, Mut und Ausdauer sind erforderlich, damit sich Dinge bewegen und verwirklichen lassen. Ohne eine Absicht, einem Ziel, würde man nichts wagen, keine Herausforderung annehmen. Ohne Ausdauer würde man nach kurzer Zeit aufgeben. Ohne das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten würde man nicht die Kraft und Zuversicht finden, auch bei Hürden auf dem Weg mutig weiter zu gehen. 
Nichtsdestotrotz bedarf es gleichermaßen der Qualitäten Kraft und Stabilität. Man kann nur sein Bestes geben, das Ergebnis haben wir meist nicht in den Händen. Ohne Vertrauen bekommen wir Angst, ohne Zufriedenheit Selbstzweifel, ohne Hingabe gelingt es nicht, anzunehmen. 

Jeder Atemzug ist für mich die Erinnerung, dass das Leben, jede Situation, jedes Asana beide Qualitäten erfordert. Die Kunst ist es, das Gleichgewicht zu finden, dieses Prinzip in das alltägliche Leben zu integrieren und zu leben. Zu spüren, wann es an der Zeit ist Mut zu haben und wann es an der Zeit ist loszulassen. 

Buddha soll einmal gesagt haben: „spannst du die Saite zu stramm, so wird sie reißen, ist sie zu locker, kannst du nicht darauf spielen“. 

Yoga ist wie das Saitenspiel, wie Musik, um schön zu klingen, bedarf es der Balance.