1885 begann Wilson Bentley, ein US-amerikanischer Farmer, Schneekristalle unter dem Mikroskop zu fotografieren. Mehrere tausend Fotos später wird klar: jede Schneeflocke ist einzigartig, keine gleicht der anderen in jedem Detail.
Wenn schon die kleinsten Teilchen eines großen Schneesturms so verschieden sind, wenn die unbelebte Natur eine solche Vielfalt darstellt, um wie viel einzigartiger sind wir selbst. Jeder Tag, jeder Augenblick ist neu und ganz besonders – wenn ich genau hinschaue. Alles ist im Fluss, in Veränderung (panta rhei). Die einzige Konstante im Leben und auf dieser Welt ist die Veränderung.
Auch jeder Mensch ist einzigartig, kein Fingerabdruck ist mit einem anderen identisch. Dasselbe gilt für manche Menschenaffen-Arten. Wer Haustiere hat weiß, jedes Wesen ist einzigartig. Das betrifft nicht nur Hunde und Katzen, früher wusste jeder Bauer, dass auch Schweine und Kühe ziemlich unterschiedlich, sogar „eigen-willig“ sind, und das geht weit über Instinkte oder das bekannte Rudel- und Hierarchieverhalten hinaus.
Ein weiteres Beispiel können Horoskope sein. Wer mag, sieht in den Sternen ein Spiegel dessen, was hier auf der Erde geschieht (Prinzip Mikro-/Makrokosmos). Führen dann fast identische Horoskope zu ähnlichen Lebensfragen? Wie sieht es bei Zwillingen aus oder Menschen, die in der selben Minute am selben Ort geboren werden? Soweit ich gelesen habe, ähneln sich Lebensthemen und Einschnitte, bzw. sie treten in vergleichbaren Abschnitten im Leben auf. Dennoch ist die Ausführung und das Feld, auf dem Herausforderungen stattfinden, unterschiedlich. Lebensumstände, Erlebnisse, gesellschaftliche Strukturen und Umfeld haben erheblichen Einfluss, und jeder Mensch gestaltet sein Leben aufgrund seiner Annahmen, Wünsche und Aktionen selbst mit, ist Co-Schöpfer seines Lebens. Auf welche Weise ich einem Ereignis begegne, bestimme ich selbst.
Man mag es blumig benennen: finde deinen eigenen Tanz; oder spirituell: erkenne und folge deinem Dharma bzw. nutze die Anlagen, die dir gegeben sind – unsere Einzigartigkeit, den ganz besonderen Wert unseres Lebens können wir gar nicht hoch genug einschätzen.
Was mache ich aus diesem einzigartigen Leben? Was ist meine Absicht? Will ich beweisen dass ich jemand besonderes bin, besser, schlechter? Oder will ich herausfinden, wer ich bin, was meine Talente sind, wie ich mit meinen wenig dienlichen Eigenschaften umgehen kann? Wie kann ich glücklich sein mit dem was ist?
Wir haben einerseits der Wunsch, einzigartig zu sein, andererseits möchten wir dazugehören. Anders sein ist anstrengend und gleichzeitig auch eine Illusion. Es gibt so viel mehr was uns verbindet, als was uns trennt. Wir alle teilen den Atem miteinander. Wir teilen den kleinen Raum Erde und leben durch das, was diese Erde uns gibt. Wir alle halten die sehr gegensätzlichen Gegebenheiten, den Dualismus des Lebens aus. Freude und Leid, Geburt und Tod betrifft alle Wesen dieser Welt.
Ich entscheide in meiner Yoga-Position, ob ich mich mit meiner Nachbarin vergleichen will, die meiner Meinung nach besser oder schlechter da steht als ich – oder eben einfach anders als ich. Ich bewerte meine Lebenssituation als ungerecht, tragisch und leidgeprüft, und das Verweilen in Utkatasana auf Zehenspitzen als eine Zumutung – oder erlaube die Wahrnehmung, dass andere auch leiden, und dass manch einer eben in dieser Position an seine Grenzen stößt und jemand anderes vielleicht im herabschauenden Hund.
So vieles auf der Welt ist ähnlich/gleich, und so vieles ist unvergleichlich/einzigartig. Der Dualismus dieser Welt begegnet uns im Yoga wie im Alltag. Wir entscheiden, was uns wichtiger ist, in jedem Augenblick.