Ein profitables Business

Der Markt für „Heilung“ boomt und seine Profite schnellen in die Höhe. Ich (Hareesh) setze das Wort Heilung absichtlich in Anführungsstriche, denn es geht hier nicht um aktuelle Heilmethoden für mentale und physische Krankheiten durch, wenn auch unzureichende, so doch immerhin geprüfte und regulierte Behandlungsmethoden (wie Physiotherapie, Psychotherapie, Somatic Experiencing, o.ä.). Ich spreche hier über die zahllosen Formen des sogenannten spirituellen, emotionalen und Energie-Heilungs-Business, die bisher keinerlei zwingenden Beweise für eine nachweisliche und wiederholbare Wirksamkeit aufweisen können. Und dennoch behaupten manche Anbieter solcher alternativen Heilmethoden, sie wären in der Lage, eine Vielzahl von realen und eingebildeten Problemen von Körper und Geist zu lösen.

Vielen Menschen wird eine Lüge verkauft, noch dazu eine recht teure. Denn das meiste dieser Energie-Heilungs-Industrie ist Blödsinn (wohlgemerkt: „das meiste davon“). Die Mehrzahl der Leute braucht keine Heilung, sie müssen einfach nur lernen, ihre Emotionen und Erfahrungen zu „verdauen“. Und die Wenigen, die einer Heilung bedürfen, verschwenden ihr Geld vielfach auf Techniken, die im besten Fall dazu führen, dass sie sich eine kurze Zeit lang etwas besser fühlen, die aber selten wirkliche Heilung bringen.

Lass mich dies näher erklären. Auch wenn ich dich nun vergrämt oder erzürnt habe, bleibe bitte aufgeschlossen für alle Möglichkeiten. Denn für den Fall dass ich Recht habe, erspare ich dir möglicherweise einige Kopfschmerzen und viel mental-emotionale Energie.

Emotionale Verstopfungen verdauen

Sprechen wir zunächst die Mehrheit derjenigen Menschen an, die glauben, dass sie Heilung brauchen, obwohl dies faktisch nicht der Fall ist. Ich glaube, dass diese Leute dasselbe Problem haben wie die meisten von uns: emotionale Verstopfung. Um dies zu verstehen ist ein wenig Hintergrundwissen nötig. Im tantrischen Yoga lehren wir, dass der Energie-Körper (oder auch subtiler Körper oder emotionaler Körper, [oder einfach der Übergang von Psyche und Körper]) Emotionen und Erfahrungen auf vergleichbare Weise verarbeitet, wie der physische Körper Essen verdaut. Da allerdings die meisten Menschen keinerlei Übung darin haben, wie man am besten mit den eigenen Emotionen umgeht – weder aus der Kindheit, noch aus irgendeinem anderen Zeitraum –, bleibt eine ganze Menge an emotionalen Erfahrungen unverdaut übrig. Diese nennen wir samskāras, ungelöste Schnipsel vergangener Erfahrungen die irgendwo im subtilen Körper herumlungern, als Bündel unverdauter Energien. Auch solche Energien sind Formen von prāṇa, also Lebens-Energie. Je mehr unverdaute Erfahrungen man hat, desto weniger Lebenskraft ist vorhanden. Das kann sich in Müdigkeit, Erschöpfung, Langeweile, Teilnahmslosigkeit oder so etwas wie einem Gefühl von Bedeutungslosigkeit oder Sinnlosigkeit zeigen, oder als eine Kombination aus all dem. Des Weiteren können solche Bündel von unverdauten Energien den Energie-Körper regelrecht vergiften wenn man sie nicht bearbeitet. Das kann zu Bitterkeit, Hass, der Unfähigkeit, Mitgefühl oder Empathie zu fühlen, und zu weiteren Symptomen führen. In extremen Fällen können solche samskāras von selbst-ernannten Schamanen als sogenannte „fremde Wesenheiten“ missinterpretiert werden, die (natürlich gegen eine entsprechende Gebühr) entfernt werden müssen.

Um es klarzustellen, hier geht es um ganz normale menschliche Erfahrungen, nicht um extreme Verletzungen oder Traumata. Emotionale Verdauung ist keine Heilung, sondern ein ganz natürlicher Prozess des Lebens. Oder vielmehr, es sollte so sein – und könnte so sein, wenn wir eine gesunde Gesellschaft von erwachsenen Menschen wären. Da aber die meisten Leute gar nicht wissen, wie sie ihre herausfordernden Emotionen und Erfahrungen verarbeiten/verdauen sollen, tendieren sie dazu, diese auf andere abzuladen (durch Vorwürfe, Beschuldigungen, emotionales Abreagieren, u.v.m.). Oder sie richten all dies nach innen und vergiften sich langsam und stetig selbst. Wenn sie dann auch noch glauben, andere wären an ihren Gefühlen Schuld, so verhindert dies zusätzlich die Aufgabe der Verdauung. Und solche Menschen versuchen gerne mal, andere dafür einzuspannen, die eigentlich eigene Arbeit für sie zu tun.

Emotionale Verdauung geschieht relativ leicht und ganz natürlich, indem:

a) du übernimmst die Verantwortung für deine Gefühle (ohne andere oder dich selbst zu beschuldigen);

b) du hast dir selbst gegenüber genug Wertschätzung, um dir jeden Tag ein wenig Zeit dafür nehmen, mit dem zu sein was ist;

c) du durchschaust die Geschichten über das, was du fühlst als genau das, was sie sind: Stories oder mentale Konstrukte, die deine Gefühle erklären wollen, und dadurch an Macht gewinnen. Du erkennst, dass es die notwendige emotionale Verdauung verhindert, wenn du solchen Geschichten Glauben schenkst; und schließlich,

 d) du kannst diese Geschichten ablegen und die rohen, unverarbeiteten Gefühle an dich heranlassen und sie in deinem Herzen willkommen heißen (egal, wie „negativ“ dein konditionierter Verstand diese auch beurteilt), während du die Fähigkeit begrüßt, diese zu verdauen.

 

Heilung ist etwas anderes

Heilung ist etwas ganz anderes als mental-emotionale Verdauung. Heilung ist dann notwendig, wenn jemand eine physische oder emotionale Wunde hat, die so tief ist, dass sie einer ganz besonderen Aufmerksamkeit bedarf, weil sie sonst lebensbedrohlich werden könnte. (Ich nutze hier das Wort „Wunde“ synonym für ein tiefes und schmerzhaftes samskāra.) Emotionale Wunden werden dann lebensbedrohlich, wenn sie einem die Lebensfreude heraussaugen und Lebenskräfte paralysieren; das kann, aber muss nicht heißen, dass sie auch physisch lebensbedrohlich sind.

Jemand mit einem sehr starken Energie-Körper ist in der Lage, sogar tiefe emotionale Wunden selbst zu heilen; aber die meisten Menschen benötigen dazu Hilfe und Unterstützung.

So kann zum Beispiel die Unfähigkeit zur Vergebung gegenüber sich selbst oder einer anderen Person, die zu einer schmerzvollen Erfahrung beigetragen hat, den normalen Verdauungsprozess komplett untergraben. In diesem Fall braucht es oft einen Therapeuten, der das Verständnis dafür erleichtert, was nötig ist, damit Vergebung möglich wird, und damit auch die Verdauung der Gefühle. Ein anderes Beispiel wäre, wenn jemand bewusst oder unbewusst vor der Intensität der eigenen nicht verdauten Gefühle zurückschreckt. Dann kann ein somatischer Therapeut dabei helfen, einen Zugang zu solchen Gefühlen herzustellen, damit sie fließen können und sich selbst lösen. […]

Oberflächliche emotionale Wunden können oft ohne professionelle Hilfe geheilt werden. Der beste Begleiter für diese Heilungsform ist ein vertrauenswürdiger Freund mit emotionaler Intelligenz. Wenn er oder sie den Raum bereitstellen kann, Zeuge sein kann, dich ohne Verzerrung reflektieren kann, dann kann Heilung geschehen, die alleine manchmal nicht möglich wäre […]. Dazu bedarf es keiner besonderen Technik, es reicht einfach das intuitive Wissen, wie man durch energetische Verbindung etwas gemeinsam fühlt. Aber es macht keinen Sinn, für so etwas Geld auszugeben. Denn a) es scheint nur dann zu wirken, wenn bereits eine Verbindung aus Vertrauen und Freundschaft besteht, und b) es gibt keine Garantie dafür, dass es überhaupt wirkt (und es dauert ein paar Tage, um sicher zu sein, dass es gewirkt hat).

[…]

Heiler, Heilung und Energie-Körper

Was passiert im Gegensatz zu solchen natürlichen Prozessen bei den meisten sogenannten „Energie-Heilungen“? Wenn der Anbieter weiß, wie man einen sicheren Raum bereitstellt, und wie man sich mit liebevollem, nicht-urteilendem Gewahrsein auf den anderen fokussiert, so kann dies zu einer Entlastung von Symptomen führen, ebenso wie eine Pille physische Schmerzen lindern kann. Das ist toll, sollte aber auch nicht mehr kosten als eine Schmerz-Pille. Es mag vorkommen, dass jemand auf solche Weise ganz intuitiv Heilung einleitet (hier ist die Methode meist eine Vorübung oder Nebelkerze für etwas, das in der Realität oft ganz spontan passiert). Bei einer Spontanheilung ist der Unterschied zu symptomatischer Erleichterung ganz substanziell und offensichtlich: Die Wunde ist geschlossen, also geheilt. Hingegen fühlt es sich bei einer symptomatischen Linderung so an, als wäre die Wunde verschwunden, nur um ein paar Stunden oder Tage später mit voller Wucht wieder aufzubrechen. […].

Meine diesbezügliche Haltung mag dich schockieren, aber dies ist die einzige Möglichkeit, wie man diese Quacksalber-Industrie stoppen kann. […]

Reservieren wir also das Wort Heilung für Situationen, in denen tatsächlich Heilung im Sinne von „kuriert und genesen“ stattgefunden hat. In diesem Sinne kann (mit ein wenig Glück) auch bei alternativen Heilmethoden manchmal Heilung geschehen.  Aber auch das muss nachvollziehbar sein: Die Wunde sollte fühlbar kleiner sein. Wenn du nach einigen Tagen nicht sicher bist, ob sich etwas verändert hat, so ist das vermutlich eher nicht der Fall. Und ganz sicher solltest du für etwas, das nicht wirkt, außer vielleicht als kurzzeitige symptomatische Erleichterung, auch nichts bezahlen.

Zweifellos werden einige bezahlte „Energie-Heiler“ über meine Analyse aufgebracht sein und alle möglichen Gegenargumente ins Feld führen. Nun denn, ich gehe sogar noch weiter: Ihr seid in einer unregulierten Branche einfach weil es nichts zu regulieren gibt. Keine dieser energie-basierten Heilmethoden (außer Akupunktur) hat nachweisbar größere Erfolge gezeigt als eine vergleichbare therapeutische Placebo-Behandlung.  […] Eine wichtige Rolle bei manch einer kurzzeitigen Linderung hängt oftmals mit der Tatsache zusammen, dass die/der Klient/in einen meditativen Zustand erlangt, der, mit ein bisschen Praxis, auch ohne fremdes Zutun erreichbar wäre.

Nun werden manche darauf hinweisen, dass viele traditionelle Kulturen, darunter auch die tibetanische tantrische Kultur, Formen von spiritueller Heilung lehren. Hier handelt es sich um Modalitäten, in denen eine Schamanen-ähnliche Figur danach strebt, bestehende Leiden von Körper oder Geist (wie Malaria oder Schizophrenie) durch magische oder übernatürliche Mittel (und manchmal auch mit Hilfe von Kräutern o.Ä.) zu heilen. Auch wenn ich Traditionalist bin, so bin ich gleichzeitig genug Rationalist um zu behaupten, dass all dies absoluter Hokus-Pokus ist – das sage ich so lange, bis solche Praktiken eine durchgängige und wiederholbare Wirkung zeigen. Mit anderen Worten sollten wir den traditionellen Humbug genauso kritisch betrachten wie den modernen Humbug.

Aber sind Praktiken des Energie-Körpers nicht Bestandteil von tantrischem Yoga? Ja, in der Tat. Der große Unterschied besteht darin, dass hier keinerlei unverantwortliche Versprechungen in Bezug auf Heilung gemacht werden. Ich behaupte jedenfalls nicht, dass die Energie-Körper-Praktiken des traditionellen tantrischen Yoga dieses oder jenes Ergebnis mit sich bringen. Ich lade dazu ein, diese Sachen auszuprobieren und für sich selbst herauszufinden, wie sie wirken. Denn ich weiß, dass jede Praxis von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausfallen kann. Was für den einen ganz wunderbar funktioniert, ist für jemand anderen komplett unbrauchbar. Außerdem möchte ich den Effekt des „Priming“ [Bahnung – vorbereitende Beeinflussung einer Reaktion auf einen bestimmten Reiz] so gut wie möglich ausschließen. Wenn also jemand auf eine bestimmte Erfahrung sozusagen vorprogrammiert wird, und diese dann erleben möchte, stellt er sich genau das einfach nur vor, anstatt es wirklich zu erleben, und das wird keinen nachhaltigen Einfluss haben […].

Die Absicht von Tantrik Yoga hingegen ist es, überhaupt keine besondere Erfahrung zu machen, sondern eher, einen stetigen, unaufhaltsamen, kraftvollen, eindeutigen Paradigmenwechsel herbeizuführen, der non-konzeptionell ist und daher so schwer zu beschreiben. Allerdings können in diesem Prozess Momente der emotionalen Verdauung und sogar Heilung als Nebenwirkungen geschehen.


Was sind die nahen Feinde der Wahrheit?

Was sind die „nahen Feinde der Wahrheit“? Ich (Christopher Hareesh Wallis) entleihe diesen Satz aus dem Buddhismus, um mich auf verzerrte Versionen spiritueller Lehren zu beziehen. Auf Aussagen, die wesentlichen und subtilen Wahrheiten ziemlich nahe kommen, aber dennoch knapp daneben liegen, was auf lange Sicht gesehen zu großen Unterschieden führt. Wenn wir von tiefgreifenden und grundlegenden Wahrheiten sprechen, so machen Äußerungen, die „ein bisschen falsch“ sind, kurzfristig betrachtet keinen großen Unterschied, wohl aber auf lange Sicht. So wie eine kleine Kursabweichung deines Bootes auf kurzen Strecken zunächst unerheblich ist, dich aber nach einigen tausend Meilen auf einen anderen Kontinent bringt.

Manche Menschen werden gegen das Wort „falsch“ im letzten Absatz Einspruch erheben. Diese Leute folgen der Idee, dass das einzig notwendige Kriterium für die Wahrheit darin besteht, dass es sich für einen selbst wahr anfühlt. Diese Sichtweise ist in Bezug auf Spiritualität ebenso gefährlich wie in Bezug auf Politik. Denn dahinter steht zumeist: Ich will, dass es wahr ist, also glaube ich es –  egal wie die Fakten sind. Wenn du nicht erkennst, wie brisant dieses Thema ist, oder wenn du zweifelst, ob es überhaupt Fakten oder universelle Wahrheiten gibt, lies bitte die zweite Hälfte des ersten Blogbeitrags (nahe Feinde #1) .

Für jeden spirituellen Sucher ist es enorm wichtig zu erkennen, warum es sich um nahe Feinde handelt, und nicht um die Wahrheit selbst, wenn er/sie über den Status eines Anfängers hinauswachsen will, um tief in die (überaus erfüllende) spirituelle Arbeit einzutauchen. Ich möchte hier noch anfügen, dass ein wirklich „naher“ Feind für einen Anfänger ein Verbündeter auf Zeit sein mag. Aber auf einem höheren/tieferen Level spiritueller Praxis gibt es kein „nahe genug“ mehr. Wenn du deine bequemen und wohlgefälligen Selbstbeteuerungen nicht auf dem Altar der Wahrheit opferst, wird dein Fortschritt stagnieren.


© Christopher Hareesh Wallis, März 2020 · Englischer Originalartikel hier!

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus dem Englischen 09.2020 von: Brigitte Heinz  · Lektorat: D.M.