Eine einfache und kurze Zusammenfassung

Die tantrischen Traditionen die im Süden Indiens ihre Blütezeit hatten, erlitten einen enormen Niedergang im Zuge der muslimischen Eroberung (ca. 1200 n. Chr.), der tantrische Buddhismus wurde wenig später in Indien ausgelöscht. Nach der Eroberung verfielen die überlieferten Traditionen weiter, ebenso wie unter der Britischen Herrschaft, so dass sie in vielen Regionen etwa um die Zeit der Unabhängigkeit (1940er Jahre) endgültig aufgegeben wurden. Wer auf seinen Reisen durch Indien das Vertrauen der Landbevölkerung gewinnen kann, erfährt, dass die letzten tantrischen Priester vor etwa 50 Jahren verstorben sind. Dies ist teilweise den Indern selbst zu verdanken, die sich mehr an der Moderne orientieren wollten; sie dachten es sei an der Zeit, eine neue Ära anzutreten. Zum anderen fand sich niemand mehr, der die erforderlichen sādhana (spirituelle Praktiken) ausüben wollte um die abhishek (spirituelle Weihen) zu erhalten und ein āchārya (spiritueller Lehrer) zu werden. Dennoch ist dieser Verlust relativ gering, denn diese lokalen Traditionslinien waren bereits im Lauf des 20sten Jahrhunderts zerfallen. Tantrische Rituale wurden oft ohne tieferes Verständnis der Philosophie von Yoga ausgeübt.

Diese Aussagen sind jedoch nicht allgemeingültig. Shrīvidyā bekam institutionelle Unterstützung durch den Mainstream-Hinduismus im Süden (z.B. Kāñchī und Shringeri), und hat sich so bis zum heutigen Tag bewahrt, dasselbe gilt für Shaiva Siddhānta (allerdings ohne Yoga) auch im Süden.

Was den Norden der Region angeht, so hat sich die Trika-Linie ununterbrochen in Kaschmir gehalten, bis hin zum Tod von Swami Lakshman Joo (1991). Diesem folgte 1992 ein Exodus der letzten Pandit-Familien. Und auch hier war die Linie bereits erheblich geschrumpft, das meist esoterische yogische Wissen war über die Jahrhunderte unter muslimischer Vorherrschaft verloren gegangen (s. auch den brillanten Artikel von Sanderson: „The Place of Swami Lakshman Joo in the Kashmirian tradition“).

Im Westen (Rājasthān) überlebte tantrischer Yoga durch eine königliche Schirmherrschaft sogar die Kolonialzeit. Es scheint aber, als wäre er am Vorabend der Moderne verschwunden. Im Osten (dies gilt gesichert für Assam und Bengalen), haben einige Erblinien bis zum heutigen Tag Fortbestand. Dort wurden leider auch häufig Praktiken von übergriffigem Fehlverhalten mit übernommen, während die dazugehörige, einst erhabene Philosophie verloren ging. In Nepal konnten einige Linien fortbestehen, und möglicherweise laufen auch heute noch einige Kramāchāryas irgendwo durch die Gegend. Auch diese Linien haben unter einer erheblichen Ausdünnung des einstigen Wissens gelitten.

Keine der Traditionen, die die Zeit überlebt haben, hat die gesamte Vielfalt von Ritualen, Yoga und Philosophie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang bewahrt. Jede für sich hat ganz substanzielle Teile der Tradition auf dem Weg verloren. Sie wurden auf vielfältige Weise stark geschwächt, so dass nirgendwo alle Puzzleteile des großen Ganzen zusammengehalten werden konnten, oftmals nur einzelne Bruchstücke.

Wie einige andere engagiert sich auch Christopher Wallis dafür, diese Puzzlestücke zusammenzutragen und so etwas wie ein Tantrisches Revival in Gang zu setzen. Die Einzelteile sind bereits vorhanden, aber in alle vier Himmelsrichtungen verstreut.

Vereinfacht gesagt hat die Philosophie überwiegend im Norden überlebt, der Yoga im Westen, die Rituale im Süden und die übergriffigen Praktiken zumeist im Osten. Natürlich sind die Zusammenhänge weitaus komplexer, so haben zum Beispiel höchst authentische und detaillierte tantrische Rituale in Nepal Bestand.

Es werden sicher weitere 50 Jahre nötig sein, um dieses Puzzle wieder zusammenzusetzen. Aber was für ein wunderbares Unterfangen, wenn man bedenkt, dass wir auf alle mögliche Art und Weise versuchen, das wieder zusammenzusetzen, was auf seinem Höhepunkt die anspruchsvollste spirituelle Tradition der Welt war. Sie bot zu ihrer Zeit eine unglaublich große Palette an Werkzeugen, Praktiken und Einsichten auf dem spirituellen Pfad an, und das für eine große Vielfalt an Persönlichkeits-Typen.

~ Hareesh


© Christopher D. Wallis (Hareesh) · 3.7.2018 · deutsche Übersetzung (06.2019) mit freundlicher Genehmigung durch Hareesh: Brigitte Heinz,  Lektorat: Eva Ananya

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