Titelbild Yoga Deutschland 11_2015

Teil 3 der Meditationsserie bei Yoga Deutschland  – Wie Wellen, die ans Ufer branden – von Nicole Konrad

Kaum hat man es sich auf der Matte oder dem Meditationskissen gemütlich gemacht, schon tauchen sie auf: diese galoppierenden Gedanken, die wie ein Gaul mit einem durchgehen!


Wie Wellen, die ans Ufer branden

Nicole Konrad, Openlotus Köln
Yoga Deutschland Nr. 11, Ausgabe Januar/Februar 2025 · YOGA Deutschland.de

Kaum hat man es sich auf Matte oder Meditationskissen gemütlich gemacht, schon tauchen sie auf: diese galoppierenden Gedanken, die wie ein Gaul mit einem durchgehen! Dabei kann Meditieren Meditieren ganz einfach sein – wenn du deinen inneren Beobachter ins Spiel bringst.

Der Geist ist wie ein junges, wildes Pferd, das man zu reiten versucht. Mit diesem Vergleich beschreibt der buddhistische Geistliche Sakyong Mipham die Meditationspraxis – er zeigt die Sprunghaftigkeit und Rastlosigkeit des Geistes. Gerade Anfänger der Meditationspraxis sind schnell frustriert, da die Gedanken unablässig abschweifen und schwer zu kontrollieren sind. Ein In-sich-Versenken oder Zur-Ruhe-kommen scheint kaum möglich. Manchmal mag es sogar den Anschein haben, dass der Geist gerade dann besonders unruhig ist, wenn man meditiert. Sollte man deswegen die Praxis verschieben oder sie besser ganz sein lassen? Ist mein Geist vielleicht gar nicht für Meditation geeignet? Die gute Antwort gleich vorneweg: Jeder Geist kann sich in Meditation üben.

Das JETZT UND HIER zählt

Vielleicht hilft die Idee, Meditation nicht als Stille zu definieren, sondern vielmehr als Gegenwärtigkeit im Augenblick. Die Praxis der Versenkung zielt darauf ab, sich bewusst zu machen, was in jedem Moment geschieht. Jetzt und hier. Das liest sich einfach, ist es aber keineswegs. Meist sind wir mit unseren Gedanken entweder noch in der Vergangenheit oder schon in der Zukunft: Hätte ich doch nur. Wäre es vielleicht besser gewesen. Hätte ich das gewusst. Ich sollte doch. Wenn ich das habe, dann. Gleich muss ich noch …

Die innere Welt entdecken

Verstehe ich die Meditation aber als Übung, das Verweilen im Augenblick zu praktizieren, ist es natürlich, dass das Erste was ich wahrnehme, mein ständig denkender und planender Geist ist. Ähnlich wie das junge Pferd springt der Verstand bei der kleinsten Ablenkung in ungestümer Wildheit davon und man selbst hat alle Mühe, nicht abgeworfen zu werden und wieder eine Verbindung aufzubauen. Meditation ist ein Weg der Selbsterfahrung – in Aufrichtigkeit ohne Erwartungshaltung. Unser Alltag ist angefüllt mit Aufgaben und Ablenkungen. Momente der Stille sind selten. Und wenn es sie gibt, schalten wir vielleicht das Radio oder den Fernseher an, lesen noch mal schnell die neuesten Mails oder die Zeitung. Einfach nur bei sich selbst sein, kein Tun-müssen, keine Ablenkung von den Erfahrungen des Jetzt sind rar. Wenn wir sie zulassen, sind wir oftmals überrascht festzustellen, wie rastlos sich unsere innere Welt darstellt.

Auf einmal nehme ich die Wildheit meines Geistes wahr, fühle die Emotionen des Augenblicks, höre mich denken und planen und fühle meine körperlichen Empfindungen deutlicher als sonst. Alle diese Eindrücke waren auch eben schon vorhanden, nur war ich selbst zu beschäftigt, um diese wahrzunehmen. Sich selbst auf den Moment einzulassen, bedeutet zwangsläufig erst einmal, mit dem was ist, einfach nur zu sein. Vor allem bedeutet es aber, der eigenen inneren Welt zu begegnen.

Eine Frage der eigenen Perspektive

Lassen wir uns auf die Praxis der Meditation ein, werden wir beobachten, dass in einem Moment eine Empfindung vorherrschend ist, manches Mal sogar übermächtig scheint, um wenig später von einer anderen Idee abgelöst zu werden. Wie Wellen, die an das Ufer branden, entfalten sich immer wieder neue Gedanken in unserem Geist. Meist sind wir vollkommen von dem Gedankenfluss gefangen und nehmen diesen als einzige Wahrheit wahr.

Ein kleiner Wechsel der Perspektive kann alles verändern. Bildlich gesprochen, kann ich mich an das Ufer stellen und beobachten, dass gerade diese Welle anbrandet. Sehend, dass dahinter schon die nächsten Wellen anrollen. Statt von der einen Welle eingenommen zu werden, kann ich das ganze Meer überblicken und erkennen, dass dieser eine Moment, diese Idee oder Empfindung eben nur ein Teil von etwas viel Größerem ist.
Dieser kleine Wechsel der Perspektive macht es einfacher, dem momentanen Erleben mit ein bisschen weniger Dramatik zu begegnen. Verweilen, atmen, beobachten, wie die Wellen brechen – in dem Wissen, dass es eben nur Wellen sind. Eine momentane Erscheinung aus dem tiefen Meer meines Bewusstseins. Gelingt es, den Geist zu beobachten, bin ich schon nicht mehr so davon gefangen. Vielleicht beobachte ich in einem Moment Wut und Zorn, fühle die Intensität, bemerke eventuell sogar meinen flacheren und schnelleren Atem. Und stelle fest: Etwas in mir beobachtet mich. Die wertvolle Erkenntnis daraus: Wenn ein Teil von mir einen anderen Teil in mir observieren kann, muss ich mehr sein als diese eine momentane Empfindung.

Der innere Beobachter

Das Problem sind nicht die Wellen, sondern das Identifizieren mit diesen. Es ist nicht möglich, den Geist vom Denken abzuhalten. Das Meer bleibt immer in Bewegung. Was ich aber schärfen kann, ist das beobachtende Bewusstsein. Also den Teil in mir, der Zeuge werden kann von meiner inneren Welt. Schule ich den inneren Beobachter, werde ich entdecken, um welche Themen sich mein Denken vorrangig dreht, welche Emotionen, Sorgen und Ängste ich durchlebe. Wahrscheinlich werde ich auch feststellen, dass die eigenen inneren Stimmen im ständigen Dialog miteinander stehen. Wie im Comic, wenn Engelchen und Teufelchen auf je einer Schulter sitzen und der Pessimist sagt: Vergiss das, das schaffst du nicht. Der Optimist aber ruft: Sicher, mach dich auf, es ist möglich, nur Mut!

Wir mögen erschrecken, wie vielfältig und widersprüchlich unsere innere Welt tatsächlich ist. Unser Beobachter wird auch sehr oft bemerken, dass wir uns selbst gegenüber fordernd, ungeduldig und herzlos sind. Jedoch ist auch diese Erkenntnis wundervoll. Nur in mir selbst kann ich damit beginnen, eine andere Realität zu schaffen. Taucht das Teufelchen auf, kann ich ihm dafür danken, dass es mich vor eventuellen Schwierigkeiten warnt, mich aber dazu entscheiden, dem Engelchen (dem Optimisten in mir) Gehör zu verschaffen.

Eine Facette der Realität

Höre ich mich denken: „Wie sehe ich schon wieder aus“, kann ich innehalten und mir selbst sagen, dass ich mir doch mit mehr Freundlichkeit und Güte begegnen will. Wenn ich glaube, vor Wut gleich aus der Haut zu fahren, kann ich mich erinnern, dass ich nur den Blick heben muss, um das Meer zu sehen. Die weitere, höhere Perspektive wird mir Raum geben. Ich kann kurz innehalten, durchatmen und reflektieren – und mit mehr Klarheit auf die Gegebenheiten des Moments reagieren.

Bei dieser Sichtweise bedeutet Meditation also nicht, das Denken aufzuhalten, sondern den Beobachter in uns zu bestärken. Schaffen wir das, wird die ständige Gedankenflut weniger starken Einfluss auf unser Empfinden haben, denn schließlich vergessen wir nicht mehr, dass dies nur eine Facette der Realität ist.

Gelebte Achtsamkeit im Augenblick

Meditation ist ein aufrichtiges Sich-wahr-nehmen, Begegnen und Sein mit dem was ist. Um mich darin zu üben, muss ich nicht auf der Matte oder dem Meditations-Kissen sitzen und still werden. Im Trubel des Alltags, im Leben mit meiner Familie, beim Arbeiten oder Einkaufen, beim Aufräumen und Putzen – egal wo und was ich mache, ich kann mich kennen lernen und Aufmerksamkeit üben. Unser Alltag ist unser Leben, unser gewöhnliches Denken macht unseren Geist und unsere Wahrnehmung aus, daher ist der beste Ort, zu üben im Jetzt und Hier.


Übung: Gehmeditation

Unzählige Schritte sind wir schon gegangen, aber haben wir diese tatsächlich wahrgenommen? Diese Meditation lädt dazu ein, das alltägliche Gehen bewusst zu erleben.

Nimm dir zehn Minuten Zeit, egal ob zu Hause oder unter freiem Himmel. Stelle dich aufrecht hin und schließe die Augen. Spüre, wie die Füße die Erde berühren und wie das Gewicht zwischen dem rechten und linken Fuß verteilt ist.

Beginne damit, ein Bein zu entlasten, um dem anderen den nächsten Schritt zu ermöglichen. Beobachte jedes Detail eines einzelnen Schrittes: Wie hebt sich der Fuß, wie setze ich ihn wieder auf, welche Stellen werden zuerst belastet, wie rollt der Fuß ab, wann beginne ich den anderen Fuß zu heben, nach vorne zu bringen und wieder zu belasten? Zwangsläufig wird sich das Tempo des Gehens erheblich verlangsamen. Es ist überraschend, wie komplex der Bewegungsablauf eines einzelnen Schrittes ist und wie intensiv die Erfahrung des Gehens tatsächlich ist.

Link zur PDF: Yoga Deutschland Nr. 11   Ausgabe Januar/Februar 2015

Link zu Teil 1 der Meditationsreihe mit Nicole Konrad

Link zu Teil 2 der Meditationsreihe mit Nicole Konrad


Nicole Konrad lebt Yoga und alles, was damit zusammen hängt. Die Praxis von Yoga und Meditation brachte sie dazu ihren früheren Lebensentwurf zu hinterfragen, festzustellen, dass dieser nicht richtig ist – und ihn umzuwerfen. Zum Glück! Heute leitet sie das Yogazentrum Openlotus in Köln (www.openlotus.de) und ist immer wieder begeistert, wohin ihr Weg sie führt.