(inspiriert durch und angelehnt an Vorträge von Hareesh Christopher Wallis, Tantrika Institute)

Eine der bekanntesten Schriften in der Yogawelt ist das Yoga-Sūtra von Patañjali. Eines der am häufigsten zitierten Sutras (Leitfaden) dieser Schrift ist Vers 1.2.

yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ

Er wird zumeist nicht ganz korrekt übersetzt als: »Yoga ist das zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen der Gedanken im Geist.«

Der von mir hochgeschätzte Yoga-Philosoph, Lehrer und Sanskrit-Übersetzer Christopher Hareesh Wallis übersetzt diesen Text wie folgt:

»Yoga ist der Zustand in dem die schwankenden Wellen des Geistes zur Ruhe gekommen sind.«
»Yoga is the state in which the fluctuations of the mind have become still.«

Hareesh, Christopher Wallis

Die Fehl-Übersetzung dieses Sutras über die letzten 100 Jahre ist möglicherweise der Hauptgrund für das weit verbreitete Mißverständnis, dass Meditation gleichbedeutend damit sei, den Geist von allen Gedanken zu befreien. Denn dieser kleine Unterschied in der Übersetzung führt dazu, dass viele Yoga-Praktizierende frustriert sind und dass manche Menschen gar nicht erst mit Meditation, Atemübungen oder anderen Yogaformen beginnen. Warum das so ist schauen wir uns nun im Zusammenhang genauer an.

Historischer Hintergrund

Das Yoga-Sutra ist heute Bestandteil jeder Yogalehrerausbildung und es gibt unzählige Übersetzungen, Interpretationen und Kommentare. Dieser Text wurde 1893 von Swami Vivekananda bei der ersten internationalen Konferenz der Religionen vorgestellt und gilt als Grundstein für die Verbreitung indischer Spiritualität im Westen. Um bei diesem damals revolutionären Ereignis überhaupt Gehör zu finden, klammerte Vivekananda einige für Westler möglicherweise befremdliche Aspekte aus, vereinfachte Manches und reduzierte die Vielfalt hinduistischer Spiritualität auf eine stark persönlich gefärbte und eingeschränkte Sichtweise (angelehnt an Advaita Vendanta).

Der Vorteil dieser Schrift bestand darin, dass es in erster Linie um Meditation geht. Der Text ist durchaus vergleichbar mit denen europäischer Mönche und Mystiker und erscheint uns darum an einigen Stellen vertraut. Allerdings hat er wenig mit unserem heutigen Verständnis von Yoga zu tun. Posturales Yoga, also die Ausübung von Asanas wird nur in einem von knapp 200 Sätzen erwähnt, in dem es sinngemäß heißt: (YS 2.46) »Ein Asana (hier: Position bzw. Sitz zur Meditation) möge kraftvoll und leicht zugleich sein«. Asanas, wie wir sie heute kennen, Yoga-Nidra, der Gebrauch von Mantras oder Visualisierungen kommen überhaupt nicht vor.

Yoga ist ein Zustand, kein Tun

Als das Yoga-Sutra niedergeschrieben wurde (vermutlich ca. 400-200 v. Chr.), beschrieb der Begriff »Yoga« einen Seinszustand, nicht eine Tätigkeit. Das ändert die Übersetzung und somit die Bedeutung und dieses Kernsatzes komplett. Es geht also nicht darum, den denkenden Geist – also den Verstand – durch aktives Tun zur Ruhe zu bringen. Jede*r die/der das einmal selbst probiert hat, wird bestätigen, dass das so gut wie unmöglich ist. Nicht nur als Anfänger bemerkt man oft, dass die Gedanken wie wilde Pferde davongaloppieren, sobald man sich für eine Meditation hinsetzt. Auch während einer aktiven Yogapraxis kommt es vor, das der Verstand sich in alle möglichen Richtungen und Szenarien begibt, angefangen bei der Frage, wie es der Person neben mir gehen mag, über diverse Zweifel, ob man denn nun alles »richtig« macht, denkt, empfindet, bis hin zu endlosen Denkkaskaden, Problemschleifen und ganzen inneren Spielfilmen. Das Dröhnen eines Flugzeugs, das Atmen der Menschen im Raum, der dicke Zeh der juckt, all das beschäftigt unseren Geist und lenkt uns von dem Gewahrwerden des jetzigen Augenblicks ab.

Der Verstand kann nicht wirklich frei sein von Gedanken. Zu denken ist sein Job, und den erledigt er wirklich gut. Das einzige was man tun kann, ist, die Bereitschaft zu entwickeln, den eigenen Gedanken nicht allzu viel Beachtung zu schenken. Offen zu werden für die Möglichkeit, dass sich der wogende Geist wie Staub in der Sonne von selbst legt und ruhiger wird. Im Englischen sprechen wir von »grace«, was soviel bedeutet wie Gnade oder Geschenk. Das Geschenk eines Geistes, der in Stille verweilt, lässt sich nicht herbeizwingen. Aber ich kann mich darin üben, geduldig und aufmerksam zu sein. Yoga (als Meditation in Bewegung oder in Stille) in all seinen Formen bietet dazu viele Möglichkeiten, Techniken und Übungen. Vielleicht tauchen dann die häufig blumig beschriebenen Momente vollkommener Verschmelzung mit dem Augenblick auf. Wenn sich mein Verstand nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen hangelt und ich in so etwas wie einem glückseligen Zustand von zufriedener innerer Stille ankomme. Das dauert zumeist nur solange, bis mir das Fehlen von Gedanken bewusst wird und mein Gedanken-Karussell mit Volldampf wieder anspringt. Jeder dieser Augenblicke ist die Übung wert, und jede Übung ist so wertvoll, voller Freude und Erleben. Umso mehr, als man es schafft, irgendwelche Ziele (wie z.B. Stille bzw. samādhi) loszulassen, und sich darin übt, genau das zuzulassen, was sich im Leben gerade für mich entfaltet.

Quellen:
https://vedanta-yoga.de/guru/swami-vivekananda-erster-yogameister-im-westen/
https://Tantrikainstitute.org  / The real Story of Yoga / Patanjali’s Yoga Sutras


Ergänzung

Übersetzung aus einem Vortrag von Hareesh Christopher Wallis

Im vormodernen Indien bedeutete das Wort Yoga entweder eine meditative Praxis, oder den Zustand, der durch diese Praxis erlangt wird. Letzteres beinhaltet Definitionen wie »Yoga ist Einssein mit Gott« (pāśupata-sūtra), »Yoga = Gleichmut« und »Yoga ist die Trennung/Auflösung der Verbundenheit mit Leid« (beide aus der bhagavad-gītā), und »Yoga ist der Zustand in dem mental-emotionale Wogen in perfekte Stille abgeflaut sind.» (yoga-sūtra 1.2).

Wortverbindungen wie »Bhakti-Yoga, Kriya-Yoga und Ashtanga-Yoga« sind ein wenig verwirrend. Im Grunde ist damit gemeint: der Zustand von Yoga, erreicht durch Bhakti …

Wir kennen das Wort Yoga auch gleichgesetzt mit meditativer Praxis (yoga-sādhana), hier beinhaltet es vier Kernbegriffe:

dhāranā – gleichbedeutend mit Konzentration (yoga-sūtra), in modernen spirituellen Gemeinschaften wie z.B. »Siddha Yoga« wird dieser Begriff genutzt im Sinne von ‚Technik zur Zentrierung‘ und/oder ‚geleitete meditative Visualisierung‘.

dhyāna – ‚Meditation‘ (steht im yoga-sūtra insbesondere für erfolgreiche, unangestrengte Meditation; aber in den Tantras (tantrische Schriften) wird es häufig genutzt für ‚meditative Visualisierung‘ (z.B. ‚Feuer-Rad-Dhyāna‘ in Tantrāloka, Vers 5).

samādhi – bedeutet soviel wie ‚totale Absorption/Versenkung‘, der meditative Zustand in dem der Verstand (mind) mit dem Objekt der Meditation verschmilzt, sich in das Objekt auflöst. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen dem der wahrnimmt und dem das wahrgenommen wird (vgl. Recognition Sutras, Kap. 19).

bhāvanā – bedeutet a) kontemplative Meditation, also das Nachsinnen über eine spirituelle Lehre und die eigene innere Reise mit dieser Lehre; und b) ‘Fühlen was ist’, und dann ‘sein mit dem was ist’ – bhāvanā kommt aus dem Wortstamm bhū, das heißt ‚fühlen/erleben‘, und auch ’sein‘.

(übersetzt von Brigitte Heinz)