Eines abends kam in einer Yogaklasse der Lehrer zu mir, um in Paschimottanasana, der sitzenden Vorbeuge, zu adjusten. Er legte sich auf meinen Rücken und drückte mich tief nach unten. Ich sagte ihm, dass es für mich schmerzhaft sei, worauf seine Antwort war: „Nun, Yoga muss weh tun, ohne Schmerz kommst du nicht weiter.“
Stimmt das? Muss Yoga „weh tun“. Bringen nur grenzwertige Erfahrungen ein Vorankommen, eine Erweiterung? Kommt man nur „auf die harte Tour“ vorwärts?Unbenommen, jeder kennt das. Die Tiefen im Leben, die schmerzhaften und schwierigen Phasen waren oft diejenigen, die, in der Rückschau gesehen, am meisten vorwärts gebracht haben. Bedeutet das, dass man nur unter lernt, wenn man gezwungen ist, der Schmerz einen zur Handlung, zu Veränderung zwingt?
Patanjali nennt im Rahmen der Niyamas (Richtlininen für den Yogi gegenüber sich selbst – Sutra 2.32) als ein Konzept TAPAS.
Tapas steht für Disziplin, Beständigkeit, Festigkeit, Willenskraft und Ausdauer.
Jeden Weg, den man gehen will, jede Absicht, die verwirklichen werden soll, bedarf dieser Faktoren. Praxis bedarf der Wiederholung, der beständigen Übung über einen längeren Zeitraum. Es geht darum, dabei zu bleiben, auch wenn es schwer wird, und Steine auf dem Weg liegen.
Im Yoga bedeutet das, die Matte auszurollen, auch wenn man mal keine Lust hat. Es bedeutet, sich heraus zu fordern und durchaus auch seine Komfortzone zu verlassen, weiter zu gehen und zu sehen, welche Tür sich auftut, wenn man alt bekanntes Terrain verlässt.
Es ist das Feuer der Willenskraft und der Beständigkeit, die dafür sorgen, dass scheinbar unüberwindbare Berge erklommen werden und man sich nicht durch Hindernisse auf dem Weg davon abhalten lässt, Schritt für Schritt weiter zu gehen.
Tapas bedeutet jedoch nicht, sich zu quälen, sich zu überfordern und die eigenen Grenzen zu missachten. Beständigkeit meint nicht, dass es keine Pausen geben kann. Den Fokus zu bewahren schließt nicht aus, spielerische Leichtigkeit und Freude zu finden. Willenskraft steht nicht im Gegensatz zur Flexibilität.
Auch in der Yogaphilosophie, im Rahmen der Niyamas, findet Tapas seine Grenze. SANTOSA und ISHVARA PRANIDHANA sind gleichwertig gültige Leitsätze.
Santosa bedeutet, mit dem glücklich zu sein, was man hat, ohne ständig mehr zu wollen oder etwas zu vermissen. Es ist die Fähigkeit, Dinge anzunehmen, so wie sie sind.
Isvara Pranidhana bedeutet Hingabe an etwas Größeres, Empfänglichkeit und die Offenheit zu akzeptieren, dass Dinge anders ausgehen können, als erwartet. Es ist die Idee von „dein Wille geschehe“.
Wie kommen diese Konzepte zusammen, stehen sie doch im scheinbaren Widerspruch zueinander. Wann muss man beständig bleiben? Wann zufrieden, mit dem was ist? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, los zu lassen? Was heißt das für mein Yoga?
Die ersten Jahre meiner Yogapraxis waren geprägt von „schneller, höher weiter“, gab es doch noch so unglaublich viele Asanas, die nicht klappen wollten und noch so viel zu lernen und zu üben. Ich versuchte die Form und den Ausdruck in meinem Körper zu finden, die meine Yogalehrer mir zeigten und die ich in diversen Zeitschriften und Büchern sah. Ich wollte Yoga lernen, Position für Position.
Beständigkeit und Fokus halfen dabei, dass ich irgendwann Push ups konnte, mich in den Kopfstand traute und in Armbalancen das „fliegen lernte“. Mein Körper wurde stärker und fester und diese Erfahrungen halfen dabei, mir mehr zuzutrauen. Das Wissen um meine Ausdauer in der Yogapraxis brachte mehr Beharrlichkeit im alltäglichen Leben. Freude über Erreichtes lies die Erkenntnis zu, mehr zu können, als zuvor gedacht. Meine Yogapraxis ging sichtbar aufwärts, wurde immer besser, bis sie eines Tages…. stagnierte und schlechter wurde. Mein Rezept war, noch härter zu üben, mit dem Ergebnis, dass es noch schlechter wurde. Es war frustrierend, wirkte doch die Technik, die sich als so wirkungsvoll erwiesen hatte, nicht mehr, schien sogar kontraproduktiv zu sein.
Was fehlte? Es war die Geschmeidigkeit, die Fähigkeit zufrieden zu sein, los zu lassen, anzunehmen, sanft zu werden, Balance zu finden, in der Yogasprache die Prinzipien von santosha und ishvara pranidana.
Es dauerte eine Weile, bis es gelang, beide Konzepte in meine eigene Praxis zu integrieren.
Tapas hilft dabei, sich anzustrengen, neue Positionen zu wagen. Isvara Pranidana ermöglicht es, Asanas mit Mehr zu füllen, sich fallen zu lassen, sich hinzugeben und die Schönheit des Moments pulsierend durch sich fließen zu lassen, in Akzeptanz und Hingabe. Santosa erlaubt es, liebevoll zu bleiben, auch wenn irgendwas nicht funktioniert. Es gibt die Erlaubnis, zufrieden zu sein, sich anzunehmen mit all den scheinbar unzähligen Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheiten.
Ich glaube, dass jeder Moment eines Ausgleichs bedarf. Hat man Angst, braucht man Mut und Beharrlichkeit. Ist man erschöpft, braucht man Ruhe und Entspannung. Fühlt man sich überfordert, braucht man Hingabe und Hilfe.
Die Kunst ist zu erkennen, was fehlt. Dies kann man nur dann feststellen, wenn man sich selbst mit Aufrichtigkeit begegnet, vollkommen vorurteilsfrei und ohne jede Erwartung an sich selbst. Man braucht Mut, um hinzusehen, um auch die „dunklen“ Seiten an sich nicht zu negieren. Es bedarf der Offenheit, sich anzunehmen, um zu erkennen, was der momentane Ist-Zustand ist und um zu sehen, was nötig ist, um wieder Ausgeglichenheit zu finden.
Jeder ist auf seinem Weg, jeder findet seine individuelle Strecke. Um weiter zu kommen bracht man Ausdauer, aber warum dabei nicht die Blumen am Wegesrand blühen sehen, den Wind in den Haaren spüren und eine Pause an einem wunderschönen Ort einlegen, um die Weite des Himmels zu genießen?
Nicole Konrad ist Leiterin des Yogazentrums Openlotus in Köln. Sie unterrichtet deutschlandweit auf Fort- und Weiterbildungen, leitet Yogaleherausbildungen und liebt und lebt Yoga.