An einem Samstagnachmittag vor einigen Jahren fing alles an. Der Besuch meiner ersten Yogaklasse veränderte, in der Rückschau gesehen, mein Leben. Nie hätte ich gedacht, dass der einfache Wunsch, kurzfristig etwas Neues zu probieren, langfristig alles auf den Kopf stellen würde.
Mich hat das Bedürfnis nach Entspannung zum Yoga gebracht. Viele kommen zu ihrer ersten Yogastunde, da sie Schmerzen haben und manche, da sie neugierig sind, was Yoga ist. Wahrscheinlich denken die Wenigsten daran, sich durch die Art der Bewegung mit „dem Höheren“ zu verbinden, durch Körperarbeit eine spirituelle Praxis zu erreichen.
Zu Beginn meiner Yogapraxis war ich damit beschäftigt, meinen Körper in die Position zu bewegen, die der Lehrer vorgab. Berg, Cobra und Hund machten wenig Sinn. Mit der Zeit wusste ich, was die einzelnen Positionen bedeuteten und ich konnte mich meinem Atem widmen. Es gelang, einen „fließenden Atem“ zu etablieren. Der ruhige, tiefe Rhythmus bewirkte tiefe Entspannung und ein ungeahntes Körpergefühl. Später zog ich sogar in Betracht, dass das, was der Lehrer über Größe und unbegrenztes Potenzial sagte, vielleicht tatsächlich auch mich meinen könnte. Mein Vertrauen wuchs und ich begann damit, die in den Stunden vermittelten Prinzipien auch außerhalb des Yogaraums anzuwenden. Ich begann, meinen Atem zu beobachten, zu sehen, wie mein Geist auf bestimmte Situationen reagierte und wie es zumindest ein bisschen möglich war, Abstand zu scheinbar überwältigenden Emotionen zu schaffen und zu beobachten, statt sofort zu reagieren.
Yoga hatte Einzug in meinen Alltag gefunden und begann, meine Art mit Menschen und Situationen umzugehen, zu verändern. Ich bin aber nicht die Einzige, bei der Yoga gewaltige Veränderungen und Transformationen unterstützte oder sogar bewirkte.
Doch wo liegt das Geheimnis, wie können Asanas, Pranayama und Meditation einen neuen Menschen aus einem machen, eine Richtung aufzeigen, von der man vorher nicht einmal gewagt hätte zu träumen?
Wie kann man diese Aspekte finden, Asana für Asana auf der Matte und Atemzug für Atemzug im alltäglichen Leben? Wie kann eine scheinbar rein physische Praxis solch tiefgreifende Transformation ermöglichen? Jeder Sonnengruß kann mechanisch praktiziert werden. Man kann ein „Workout“ machen oder man kann jedem Moment eine tiefere Ausrichtung geben, jeder Bewegung durch Fokus „Leben einhauchen“. Es ist nicht erforderlich, dies zu tun. Doch wenn man damit beginnt, wird man die Tiefe des Yoga entdecken und sich vielleicht dazu entscheiden, die Prinzipien selbst auszuprobieren.
Die eigene Yogapraxis ist ein Spiegel des Selbst. Wie ich mich selbst während der Asanas behandle, die Gedanken, die ich mir gegenüber habe, zeigen mir, wie ich lebe und mit schwierigen oder schönen Momenten umgehe. So wie ich praktiziere, lebe ich mein alltägliches Leben. Bin ich liebevoll zu mir, werde ich dies auch im Alltag sein, bin ich mir nie genug, werde ich Unvollkommenheit spüren.
Wenn man jedoch damit beginnt, der eigenen Praxis ganz bewusst einen Fokus zu geben, kann es einen verwandeln.
Yoga ist, um es in John Friend’s Worten zu sagen, Absicht mit Ausrichtung in Aktion.
Die Absicht ist der wichtigste aller genannten Aspekte. Dahinter steht die Frage, warum praktiziere ich, was bringt mich jeden Tag auf meine Matte, was für ein Ziel habe ich in jedem einzelnen Moment und mit welcher inneren Einstellung, mit welchem Bewusstsein, atme ich jeden einzelnen Atemzug? Yoga kann jeden transformieren, wenn man Moment für Moment mit Bewusstsein und Absicht lebt.
Doch welche Absicht hat ein Yogi?
Alle Yogatexte stimmen darin überein, dass das Ziel des Yoga Vollkommenheit ist. Vollkommenheit und Einheit mit dem Höchsten, dem Absoluten. Doch was ist das? Wir können es nur beschreiben, vielleicht so: kreierende Kraft, umfassende Güte, absolutes Bewusstsein, größte Freude, Freiheit, Fülle, Vibration, pulsierende Kraft und absolute Schönheit. Yoga lehrt, dass es mehr gibt, als nur die einfachen Empfindungen des Körpers und des Geistes. Es lehrt, wie man Körper und Geist schult, fokussiert zu sein und zu bleiben, Kraft und Ausdauer zu entwickeln, um Anhaftungen und Ängste zu überwinden. Die Tradition des Tantra lehrt sogar, dass man das Absolute ist, dass alle Schönheit, Anmut, Größe und Kraft in einem selbst liegen und man sich dessen nur erinnern müsse. Tantra sagt, dass alles, was existiert, eine individuelle Ausformung der einen Kraft ist, alles miteinander verbunden ist, den gleichen Atem und Pulsschlag teilt.
Asanas mit einer Absicht zu praktizieren, sind um ein vielfaches stärker. Wenn ich nur in Betracht ziehe, ein Teil des Absoluten zu sein, kann jede Bewegung eine Meditation sein, ein Gebet, ein Geschenk. Jeder Atemzug kann mich daran erinnern, dass ich expandieren kann, dass Prana, die allumfassende Lebensenergie, in jedem Moment durch meinen Körper pulsiert und ich Teil eines Größeren bin.
Ebenso kann ich mich darauf fokussieren, dass die Früchte meiner Praxis jemanden zu Gute kommen mögen, der Kraft bedarf, ich kann darum bitten, dass Prana Heilung und Kraft bringt, um alte Verletzungen gehen zu lassen und den Mut zu finden, neue Wege zu gehen. Themen, um eine höhere Absicht zu finden, sind unbegrenzt.
Doch wie gelingt es dann, die Absicht in eine Ausrichtung, in „alignment“ zu bringen?
Wieder lehrt die Yogapraxis auf der Matte Wesentliches. Gelingt es, den Körper gesund auszurichten, wird alles leichter.
Zu Beginn meiner Yogapraxis stellte Virabadrasana I und II schlicht ein Workout für meine Oberschenkel dar. Es war einfach nur anstrengend. Es gelang zwar, die Position nach und nach länger zu halten, doch brachte erst die Integration des „restlichen“ Körpers ein wirklich kraftvolles Erlebnis. Ich musste lernen, wie ich meinen Körper in Einheit zueinander bewegte, wie die Integrität der Füße, des hinteren Beins, der Wirbelsäule und der Arme Kraft, Sanftheit und Anmut entstehen ließen.
Sicherlich erfordern Asanas Kraft und Ausdauer, doch wenn sich der Körper in einer gesunden Ausrichtung befindet, erhält man ebendiese zurück.
Wie alles zusammenhängt und miteinander verbunden ist, lehrte mich direkt mein Körper. Auch im Alltag spürte ich deutlicher, wie Ereignisse direkte Auswirkungen auf mein Wohlbefinden hatten. Stress bewirkte eine flachere Atmung und Angespanntheit, Freude Entspannung und Sanftheit. Mit der Zeit verstärkte sich die Fähigkeit zu unterscheiden, was mir gut tut und welche Wege ich gehen wollte. Es fiel mir leichter, Entscheidungen zu treffen und zu bemerken, wann ich nicht mehr „gut ausgerichtet“ war.
Mehr und mehr erinnerte ich mich im Alltag an die im Yoga gelernten Prinzipien und ich stellte fest, dass die eigentliche Praxis dann beginnt, wenn man seine Matte verlässt. Wo war ich mit meinen Gedanken beim Essen, wie begegnete ich meinen Mitmenschen? Yoga ist Praxis, Yoga bedarf der Praxis, der Aktion. Selbst wenn andere Aufgaben wichtiger erscheinen und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wird man die Zeit finden, um zu üben, mit Absicht.
Das ist der Zauber des Yoga. Auf der Matte lernt man, wie viel Kraft und Sanftheit in einem selbst liegen. Prana kann direkt erfahren werden. Man lernt, Vertrauen zu haben, in sich selbst, aber auch in das Leben.
Dieses Vertrauen lässt Transformation zu, die Bereitschaft sich zu öffnen bewirkt, dass man mehr und mehr der inneren Stimme folgt und so Schritt für Schritt Größe und Anmut zum Ausdruck bringt.
Meine erste Yogalehrerin sagte einmal: „Passt auf, Yoga kann euer Leben total verändern. Wenn ihr das nicht wollt, dann praktiziert lieber nicht.“
Sie hatte Recht.
Nicole Konrad / Openlotus – die Yogaschule in Köln