Götter im Yoga: eine tantrische Praxis
Heutzutage trifft man in den meisten Yogastudios ein Bild oder eine Figur von Ganesha oder Shiva Nataraja an, beide erlangten in der tantrischen Periode an Bedeutung. Die Bildhaftigkeit und Lehren des klassischen Tantra sind voller Göttergestalten. Aber was ist eigentlich eine Gottheit?
(deutsche Übersetzung eines englischen Textes von Christopher Hareesh Wallis)
Das Götter-Yoga ist einer der am wenigsten verstandenen Aspekte des tantrischen Yoga. Der Begriff ,Götter-Yoga‘ bezieht sich auf die grundlegende tantrische Praxis, Aspekte des Einen göttlichen Bewusstseins anzurufen und sich mit ihnen zu identifizieren. Mit anderen Worten, die einzig existierende, alleinige, Eine Energie, drückt sich als unzählige unterschiedliche Formen von ,Schwingungen‘ oder ,Schwingungsmustern‘ aus – einige davon sind sehr kurzlebig, andere wiederum bestehen ewig (oder dauern eben so lange an, wie dieses Universum). Diese ,ewigen‘ Schwingungen sind wesentliche Bestandteile des Musters, welches allem zugrunde liegt. Sie halten so lange an, wie das Muster existiert. Einige dieser ewigen Schwingungen bewusster Energie nennen wir ,Gottheiten‘. Das Wort deva in Sanskrit (oder die weibliche Form devī) stammt von der Sanskrit-Wurzel √ div und bedeutet sowohl ,Glanz‘ als auch ,Spiel‘. Also sind Devas die glänzenden, leuchtenden Spielenden – verspielt in dem Sinne, dass sie sozusagen ,mit uns spielen wollen‘!
Sind denn die Götter real?
In welchem Sinne real? Die Gottheiten sind insofern real, als dass sie strukturelle Formen des Bewusstseins sind, die in uns existieren (als ein Aspekt unserer Wesensnatur), und auch als energetische Muster im weiter gefassten Universum (in dem jeder Einzelne ein Mikrokosmos ist). Daher sind diese Formen weder auf ,Götter‘ (göttliche Personen) noch auf ,Archetypen‘ (Aspekte unserer Psyche) reduzierbar, obwohl sie in gewissem Sinne beides sind (und mehr). Sie sind insofern Archetypen, als dass sie Paradigmen oder Muster innerhalb des kollektiven Unbewussten sind (gemäß C.G. Jung); und sie sind göttliche Personen in dem Sinne, dass du einer Gottheit ,begegnen’ kannst, in der du gleichzeitig die Gegenwart eines göttlichen ,Anderen‘ spürst, und doch erkennst, dass dieses ,Andere’ nicht von dir getrennt ist. (Apropos, ich nutze hier jede Menge Anführungszeichen um darauf hinzuweisen, dass Wörter nur sehr grob solche Erfahrungen beschreiben bzw. sich an das annähern können, was notwendigerweise jede mentale oder verbale Darstellung überschreitet, die wir daraus erschaffen können.)
Bekommst Du ,Besuch‘ einer solchen Gottheit, fühlt es sich ,anders und fremd‘ an weil du noch nicht dein gesamtes Sein realisiert hast, welches alle Formen einschließt, die das Eine Bewusstsein annehmen kann.
Die Tantrische Tradition lehrt, dass jede Gottheit eine ,Essenz-Natur‘ (svabhāva) hat, die ,Körper‘ (mūrtis) bewohnen kann, die dann als Repräsentationen davon dienen. Die meisten Gottheiten haben drei ,Körper‘: den Klangkörper (mantra), ein geometrisches Muster (yantra oder maṇḍala) und eine anthropomorphe Darstellung (als Skulptur, Bild oder Vision). Ein gegebener Körper, wie z.B. die Statue einer Gottheit, wird als ,tot‘ (jaḍa) betrachtet, es sei denn, die Energie der Gottheit wird in diese Statue verankert (dies wird prāṇa-pratiṣṭhā genannt). Das geschieht in der Regel mittels Mantras, die in einem Raum achtsamen und hingebungsvollen Bewusstseins ausgesprochen werden; dann wird die mūrti der Gottheit als ,lebendig‘ oder ,bewusst‘ (chaitanya) bezeichnet.
Nicht das Gefäß wird verehrt, sondern die Energie
Dies ist einer der Gründe, warum die Briten in der Kolonialzeit (Baptisten und Muslime bis heute) Inder zu Unrecht als ,Götzendiener‘ bezeichneten. Wird nämlich Prāṇa (Lebenskraft) von einer Statue entfernt und vorübergehend in ein Gefäß übertragen (wie z.B. ein Wassergefäß oder ein Kräutertopf), dann wird die Statue kurzerhand entsorgt und das Gefäß als Gottheit behandelt! … bis die Energie in eine neue Statue oder ein anderes Substrat eingebaut werden kann. Ein Götzendiener zu sein bedeutet das Gegenteil, nämlich ein Symbol mit seiner Referenz zu verwechseln. Hier wird die Energie selbst verehrt, nicht ihr Gefäß oder ihre Darstellung.
Bhavatārinī Kālī (auf Śiva stehend), in Dakshineshwar. Eine von vielen Darstellungen von Kālī, der prototypischen tantrischen Göttin, aber nur diese bengalische Version wird heutzutage verehrt.
Was die eigentliche Tantrische Praxis von der von ihr beeinflussten Tempelkultur unterscheidet, ist, dass Tantrikas es eher vorziehen, die Energie einer Gottheit anhand eines visualisierten anstatt eines physischen Trägers anzurufen. Diese Praxis beinhaltet notwendigerweise, sich selbst als Ausdruck der Gottheit zu ehren, denn gemäß der Tantrischen Maxime „kann nur Gott selbst Gott anbeten“ (śivībhūtvaiva śivaṃ yajet). Nachdem die Energie der Gottheit anhand der Visualisierung angerufen wurde (Tantrische Buddhisten beschreiben dies als Beschwörung des jñāna-sattva, ,Weisheitswesen‘ in den samaya-sattva oder ,symbolisches Wesen‘), ehrt der Praktizierende die Kraft/Energie der Gottheit, während er sich bemüht, die Gottheit als Abbild seines eigenen Wesens zu sehen, als eine Art Spiegelung eines Aspekts seines wahren Seins.
Auch das Mantra einer Gottheit kann ,leblos‘ oder ,lebendig/bewusst‘ sein. Ein lebloses Mantra kann allerdings nicht zur eigentlichen Frucht einer Mantra-Praxis führen, dem Mantra-Siddhi. Um sicherzustellen, dass ein Mantra ,lebt‘, ist der beste Weg, es von jemandem zu erhalten, für den dieses Mantra lebendig ist. Ein Lehrer, der über ein erwachtes Bewusstsein verfügt, überträgt ein Mantra welches mit diesem Bewusstsein erfüllt ist. Hier geht es nicht darum, ob ein bestimmter Lehrer ,erleuchtet‘ ist, denn auch jemand, der in dieses Mantra verliebt ist und damit tiefreichend gearbeitet hat, kann es in einem lebendigen Zustand weitergeben (so etwas geschieht manchmal bei kīrtans).
Mantras, Yantras, Murtis und Prana
Bei der Ausübung von Götter-Yoga kann man zwischen ,erleuchteten Gottheiten‘ und allen anderen unterscheiden. Erleuchtete Gottheiten sind solche, die als Teil einer spirituellen Praxis angerufen werden, die auf Befreiung und erwachtes Bewusstsein abzielt (mokṣa und bodha). Dagegen werden andere Gottheiten für bestimmte begrenzte Ziele angerufen – wie z.B. Steigerung von finanziellem Überfluss, Partnersuche, Befriedung eines Feindes u.v.m.. Sādhana einer bestimmten Gottheit auszuüben bedeutet, diese Gottheit täglich mit Mantra, Yantra und Visualisierung anzurufen (drei von vier der Schlüsselelementen des Tantrischen Yoga, das vierte ist der Atem). Solch ein sādhana kann zu inneren und äußeren Veränderungen führen – du erhältst möglicherweise ,Anzeichen‘ dafür, dass du mit der Energie dieser Gottheit in Verbindung stehst, wie z. B. dass Elemente der Attribute dieser Gottheit wiederholt in deinem Leben auftauchen.
Parā Devī, Höchste Göttin der Trika Traditionslinie, ein Beispiel für eine ,erleuchtete Gottheit‘ in einem modernen Darstellungs-Stil.
# Tantrik Yoga, #deutsch
Übersetzung mit freundlicher Genehmigung durch Christopher D. Wallis (Hareesh), Übersetzung: Brigitte Heinz, Lektorat: Daniela A.
Links zu den englischen Originaltexten:
https://hareesh.org/deityyoga