Warum rezitieren wir uralte Mantras aus einer anderen Kultur in einer „toten“ Sprache? Warum zieht mich die Yoga-Philosophie so an? Warum kommt mir vieles so vertraut vor?

Ich habe gefühlt schon immer mit Freude Sanskrit Mantras gechantet und lausche gerne Kirtan-Gesängen und -Konzerten. Inzwischen kenne ich viele Mantras, bei den meisten auch die deutschen Übersetzungen; und die Teilnehmer meiner Yoga-Klassen singen meistens gerne mit. 😉

Die alten Yoga-Schriften wurden in Sanskrit verfasst, und für mich ist Yoga ein Gesamtpaket aus Asanas, Philosophie, Meditation, Mantras und Atemübungen (Pranayama). Gerade im tantrischen Yoga ist der „Laut“ (Phonem), das Wort oder die Silbe als Mantra sehr wichtig. Jeder Laut hat seine Bedeutung und im Zusammenspiel sind diese Mantras so etwas wie ein Gebet. Sogar die Aneinanderreihung des Sanskrit Alphabetes mit 50 Lauten ist ein eigenes Mantra mit Namen „matrika“ was soviel bedeutet wie Matrix oder auch kleine Mutter. Sprache selbst wird als heilig erachtet, da die Welt selbst aus Schwingung bzw. Klang entstanden ist. Die Sprache Sanskrit ist buchstabengetreu und wissenschaftlich zugleich, sowohl was das Denken, also die Philosophie angeht, als auch die Mathematik bzw. Algebra.

Als der Yoga in den Westen kam, etwa zur Jahrhundertwende des 19. Jhr., passte dies zur mystische Welle dieser Zeit. Das exotische unbekannte war spannend, aufregend und in den entsprechenden Gesellschafts-Kreisen hoch in Mode. Noch in den 60er Jahren galt Yoga auch deshalb im bürgerlichen Umfeld als gefährlich und sektiererisch. Immer noch ist der Hang zum Esoterischen ungebrochen. Lt. Wikipedia bedeutet Esoterik: „bestimmte religiöse, mystische oder philosophische Riten, Ideen und Gebräuche, die nur für Eingeweihte (geistig) zugänglich sind“. Insofern können wir heute kaum mehr von Esoterik sprechen wenn es um Yoga geht. Denn das ehemalige Geheimwissen für gebildete, männliche Menschen der höchsten indischen Kaste ist inzwischen für jede/n zugänglich, die/der sich dafür interessiert. Hinzu kommt, dass unsere Kultur bzw. unsere Religionen oft unzureichende Antworten auf die Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod bieten.

Die Menschen sehnen sich nach Sinnhaftigkeit, nach Versprechen von Erleuchtung, Befreiung, ewigem Leben – und suchen dies zuweilen im Fernen Osten. Nicht zuletzt weil der Sanskrit-Begriff „bhoda“ im deutschen mit „Erleuchtung“ übersetzt wurde. Dieses Wort beinhaltet so etwas wie: man legt einen Schalter um und Schwups ist die Welt hell und klar, man weiß alles, das Leben ist leicht und licht und das Ziel ist erreicht.

So einfach ist es natürlich nicht. Bhoda heißt wörtlich übersetzt eher so etwas wie „gewahr sein, wach sein für die Realität“. Das klingt schon gar nicht mehr so verlockend. Wenn ich nun noch berücksichtige, dass im englischen „Enlightenment“ für das Zeitalter der Aufklärung steht, nähern wir uns dem eigentlichen Sinn des Wortes. Aufklären, Erklären, Erkennen und Erwachen, das viel genutzte Wort „bewusst-Sein“ ist eher etwas Aktives und noch dazu anstrengend, denn es erfordert Aufmerksamkeit und Disziplin.

Philosophie heißt übersetzt „Liebe zur Weisheit“. Es ist der Versuch, die Welt und die eigene Existenz zu ergründen, zu erklären und dadurch vielleicht auch zu erleichtern.

Europas Wurzeln gründen auf dem Mystizismus der Naturvölker, die die Welt anhand von Omen und Weissagungen erklärten; gefolgt vom Hellenismus der Griechen und Römer, die in ihrem Pantheon eine Vielzahl an Göttern als überhöhtes Spiegelbild der Menschen verehrten; und später stark beeinflusst von semitischen Strömungen, die dann zu den drei großen monotheistischen Religionen von Islam, Judentum und Christentum führten.

Die Philosophie der Antike war größtenteils auf (alt)griechisch bzw. später auf lateinisch verfasst. Das sind heute ebenso „tote“ Sprachen wie Sanskrit. Was bedeutet, dass Latein wie auch Sanskrit sich über mehr als 3.000 Jahre kaum verändert haben, und die Gelehrten aller Zeiten konnten und  können sich bis heute untereinander in diesen Sprachen verständigen. Mein Vater erinnert sich noch an komplett auf Latein gehaltene Messen, und auch in meiner Kindheit wurden viele Texte und Lieder in der Kirche in Latein rezitert. Leider hat die Kirchengeschichte mit ihrem Dogmatismus, den Kreuzzügen und Hexenverfolgungen dieser Sprache sicher nicht nur bei mir einen unangenehmen Beigeschmack verliehen (Ich hatte immerhin das Glück, eine nette Latein-Lehrerin zu haben.).

Doch zurück zu meiner Ausgangsfrage, warum Sanskrit Mantras? Und wieder lande ich bei der Geschichte, diesmal noch viel weiter zurück. Soweit mir bekannt ist, haben wir Europäer und zumindest die hellhäutigeren Einwanderer, die von Norden her Indien „eroberten“, gemeinsame „indo-germanische bzw. indo-europäische“ Wurzeln. Man vermutet ein Volk im südlichen Russland bzw. im Norden des heutigen Irans, dass sich einerseits über den Kaukasus Richtung Indien ausgebreitet hat, und andererseits eben nach Europa zog. Daher stammt wohl auch der Begriff „kaukasische Gesichtszüge“ was auf viele Europäer zutrifft. Als die gebeutelten Ahnen dann endlich die kargen Landschaften und schroffen Gebirgszüge des Kaukasus überwunden hatten und ins fruchtbare Punjab (Nordindien) gelangten, wähnten sie sich als von den Göttern gesegnet, der Begriff „Arier“ bedeutet übrigens in etwa dieses – was durch den entsetzlichen Mißbrauch in unserer Geschichte leider zu den vielen „verbrannten“ Wörtern im deutschen Wortschatz zählt.

Vielleicht sind es diese gemeinsamen Wurzeln, die einerseits zu einer immer noch nachvollziehbaren Verwandtschaft der Sprache, andererseits und viel wichtiger noch: zu einer vergleichbaren Art zu denken führte. Denn es ist gar nicht so selbstverständlich, dass die Menschen auf der Welt ähnliche Gedankengänge und -zusammenhänge denken. Bekannt ist vielleicht, dass es in der Mathematik neben unserem 10er Dezimalsystem auch 6er (Hexalsystem), 12er  und 16er (Hexadeszimalsysteme), vielleicht auch weitere gibt.

Entsprechend unserer Schreibweise, von links nach rechts oder umgekehrt (z.B. im Arabischen) ordnen wir Vergangenheit und Zukunft auf einem Zeitstrahl an, also von links nach rechts oder umgekehrt. Im indonesischen Raum gibt es Menschen, die die Vergangenheit vor sich verorten, und die Gegenwart hinten. Australische Ureinwohner kennen kein rechts und links, sondern ordnen alle Dinge im Raum automatisch den Himmelsrichtungen zu. Unterschiedliche Denkstrukturen zeigen sich in Bezug auf Zeit- und Raumangaben, auf Familienzugehörigkeit und gesellschaftliches Selbst-Verständnis.

Wir denken in Sprache, Sprache bestimmt das Denken; sie beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen (diese Idee ist uralt, z.B. von Humboldt: „Denken ist eine Ansammlung linguistischer und nichtlinguistischer Prozesse“). Worte sind mit Bildern und Emotionen verknüpft, das nennt man Framing. Wenn Menschen grundverschieden sprechen, dann denken sie auch unterschiedlich. Vielleicht ist mir Yoga deshalb „vertraut“, weil Sprache und Denkweise die gleichen Wurzeln haben.

Nicht zuletzt hat es von der Antike bis zum Mittelalter einen regen Austausch von Gedanken zwischen den Kulturen der bekannten Welt gegeben. Austausch führt zu Verstehen, Verständnis zu einem solidarischeren Miteinander – all dies ist hochaktuell und dringend nötig!

Nun genug der Geschichte und Infragestellungen:
Lange Rede, kurzer Sinn: Mantras tönen macht (mich) einfach glücklich!

Ein Beitrag von Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA und Anusara Elements im Openlotus


Quellen und Inspiration: Christopher Wallis, Hareesh: Einführung in die Sprache Sanskrit – kultureller Hintergrund – Patreon-Beitrag 2019; Internet; Geschichts- und Philosophie-Unterricht und viele Bücher; „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder; uvm.