Link zur PDF: Interview Carlos Pomeda
Link zur ursprünglichen Veröffentlichung: Yoga aktuell – Ausgabe 3/2012
Carlos Pomeda ist ein international bekannter Yogalehrer, der die philosophischen Lehren Indiens tief durchdrungen hat. Der gebürtige Spanier lebte lange Zeit in Indien, u.a. neun Jahre lang im Siddha-Yoga-Ashram bei Swami Muktananda und Gurumayi Chidvilasananda, und war 18 Jahre lang Mönch des Sarasvati-Ordens. Heute ist er mit seiner Frau in Texas ansässig, gibt jedoch weltweit Workshops. Pomeda hat einen Mastertitel in Sanskrit von der UC Berkeley und einen Master in Religionswissenschaften von der UC Santa Barbara. Kürzlich brachte er die 6-teilige DVD-Reihe „The Wisdom of Yoga“ heraus. YOGA AKTUELL sprach mit ihm über die zeitlosen oder vielleicht sogar in unseren Tagen besonders relevanten Lehren der Bhagavad-Gita.
»Für mich geht es bei Ahimsa also darum, den Schaden so gering wie möglich zu halten, und wenn sich uns in diesem Zusammenhang Fragen stellen, müssen wir uns auf unsere eigene innere Weisheit einstimmen. An diesem Punkt kommen Yoga und Meditation zum Zuge.«
YOGA AKTUELL: Die Bhagavad-Gita gehört zu den bekanntesten philosophischen Texten überhaupt. Wann ist sie entstanden?
Carlos Pomeda: Der Text entstand wahrscheinlich im Verlauf eines größeren Zeitraums und wurde zunächst mündlich überliefert. Die meisten Gelehrten datieren ihn auf das dritte bis zweite Jahrhundert v. Chr. Die Gita ist also ziemlich alt, und doch ist sie zugleich in ihren Lehren modern und hat für uns heute immer noch Bedeutung. Die Grundstimmung, die sie zum Ausdruck bringt, ist sehr demokratisch; Frauen haben in der Yogapraxis genauso ihren Platz wie Männer, und alle sozialen Schichten werden berücksichtigt. Das alles macht sie auch heute so relevant.
YA: Vor welchem Hintergrund sind die Lehren der Bhagavad-Gita angesiedelt?
Der Hintergrund, vor dem sie spielt, macht die Gita einzigartig. All die Lehren, die Krshna darin vorträgt, stehen im Kontext eines Krieges. Normalerweise trägt sich der in Yogatexten wiedergegebene Dialog zwischen Lehrer und Schüler in einer friedlichen Umgebung, beispielsweise in einem Ashram irgendwo im Wald oder in einem anderen ruhigen Umfeld, zu. Aber die Gita ist inmitten eines Kampfes angesiedelt. Ich glaube, dieser Hintergrund macht sie dramatischer und auch aussagekräftiger und relevanter für uns. Die meisten von uns leben ja schließlich ein Leben, in dem nicht alles ruhig und friedlich ist. Wir werden mit Herausforderungen und Konflikten konfrontiert, und dadurch haben wir einen Bezug zu diesen Lehren. Es handelt sich dabei nicht um Theorie, sondern die Lehren der Gita versuchen praktische Antworten zu geben, wie man leben soll.
YA: Sie meinen also, der Hintergrund der Gita wurde als Symbol für all die Kämpfe gewählt, mit denen wir in unserem Leben konfrontiert werden?
Genau. Die meisten Historiker nehmen an, dass sich der Text auf ein tatsächliches geschichtliches Ereignis beziehen muss, obwohl es dafür keine konkreten archäologischen Belege gibt. Der in der Gita beschriebene Kampf ist eine Fehde zwischen zwei Gruppierungen aus derselben Familie, was zahlreiche Interpretationen zulässt. Man kann es als Bild für den Unfrieden in der Welt sehen oder als Bild dafür, wie ein Yogi in der Welt leben kann, oder auch dafür, wie wir alle mit den Konflikten umgehen können, die wir in unserem eigenen Körper und unserem eigenen Leben vorfinden. Es geht auch darum, wie man mit Zweifeln klarkommt, um die Frage nach „richtig“ und „falsch“, um den Konflikt zwischen Wissen und Unwissen. Es geht um all die Dynamiken, die uns innewohnen, und die Gita gibt praktische Ratschläge, wie wir in den täglichen Kämpfen damit zurechtkommen.
YA: Welche Lehren bietet die Bhagavad-Gita genau an?
Die Gita ist ein Dialog zwischen den beiden Hauptcharakteren Arjuna und Krshna. Arjuna ist ein Mensch: ein Held, ein fähiger junger Mann, gebildet und erfolgreich. Doch er gerät in eine Situation, in der er von Zweifeln geplagt wird und nicht weiß, wie er sich korrekt verhalten soll.
Er fragt sich, ob er kämpfen oder nicht kämpfen soll. Moralische Aspekte spielen hier eine Rolle. Einerseits weiß er, dass es seine Pflicht ist zu kämpfen, andererseits ist ihm bewusst, dass der Krieg zum Tod von Menschen führen wird, die seinen Respekt verdienen – Familienmitglieder, Lehrer und andere werden sterben. In seiner inneren Zerrissenheit steht Arjuna stellvertretend für alle Menschen. Der andere Protagonist ist Krshna, der die Lehren zur Verfügung stellt. Krshna ist die Manifestation des Göttlichen, ein Avatar, eine Inkarnation der Lehre. Er kam in die Welt, um der Negativität gegenüberzutreten. Auch dies ist wieder hochgradig symbolisch. Der Krieg kann als Kampf zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen betrachtet werden, und ist es nicht so, dass wir alle dies in unserem spirituellen Leben durchmachen? Jeden Tag ist es das Gleiche: Auf welche Stimme hören wir – auf die menschliche, die einfach nur reagieren möchte, oder vertrauen wir auf die göttliche Stimme, die aus einer höheren Perspektive zu uns spricht, aus dem Inneren unseres Herzens heraus?
In der Gita wendet sich Arjuna mit seinen Sorgen an Krshna. Dieser antwortet nicht auf direkte Weise, sondern hilft Arjuna, sein Bewusstsein auf eine Perspektive zu erheben, von der aus er selbst entscheiden kann. Dies ist eine schöne Metapher für den spirituellen Weg. Es geht nicht darum, blind den Anweisungen von jemand anderem zu folgen, sondern darum, die Wahrheit in sich selbst zu finden und eine tiefe Bewusstheit zu finden, zu der wir alle gelangen können. Darin liegt für mich die Kernaussage, die wichtigste Lehre der Gita.
YA: Warum konnte Arjuna den Kampf nicht vermeiden? Hätte er sich nicht einfach abwenden können?
In Kapitel 3 sagt Krshna sehr deutlich, dass man auch dann, wenn man sich entscheidet, nichts zu tun, eine Wahl trifft, nämlich die Wahl, nein zu sagen. Und auch dies ist eine Form des Handelns.
Wir kennen das aus eigener Erfahrung: Man geht z.B. die Straße entlang und sieht einen Obdachlosen, der bettelt. Man fragt sich: Soll ich ihm etwas geben oder nicht? Beide Entscheidungen sind Formen des Handelns. Und welche ist die richtige? Es ist nicht immer ganz klar. Ich erinnere mich daran, dass ich mal beobachtete, wie ein Bettler mit dem Geld, das er soeben bekommen hatte, ins nächste Geschäft ging und Alkohol kaufte. War es also richtig? Immer wieder stellt sich diese Frage. Das ist nur ein einfaches Beispiel, aber der Kampf kann auch hier nicht vermieden werden. Wir können ihn nicht vermeiden. Selbst wenn wir beschließen, nicht zu kämpfen, beziehen wir damit Position, und wir sind für jede Entscheidung, die wir treffen, verantwortlich, ob wir uns nun für Unterlassung oder Teilnahme entschieden haben. Die Lösung ist in diesem Fall nicht auf der geistigen Ebene zu suchen, auf der wir uns fragen „Soll ich oder soll ich nicht?“, sondern sie liegt in einer Transformation in uns, durch die wir zu einem höheren Bewusstseinszustand emporsteigen. Und hier kommt Yoga ins Spiel. Yoga hilft uns, uns mit dem Höchsten zu verbinden. Im Herzen von allem ist jedoch die Meditation, denn sie ist die Praxis, die uns mit unserer inneren Weisheit verbindet.
YA: Können wir ein vollkommen gewaltfreies Leben führen, in der yogischen Terminologie: ein Leben in Ahimsa?
Die Idee von Ahimsa ist im Yoga eine Schlüssellehre, die in allen Traditionen vorkommt. Ahimsa wird oft mit „Gewaltlosigkeit“ übersetzt, ist aber eigentlich ein „Nicht-Verletzen“, was einen ziemlichen Unterschied bedeutet. Wenn man z.B. sieht, dass jemand sich grundlegend falsch verhält, und nichts dagegen unternimmt, dann handelt man auf eine Weise, die dieser Person ermöglicht, ihr schlimmes Verhalten fortzusetzen. Man wird dadurch zu einer Art Komplize und wird auf gewisse Art selbst gewalttätig, weil man zulässt, dass die Gewalt weitergeht. Indem man dem Bösen nicht entgegentritt und die Konfrontation vermeidet, macht man sich schlussendlich zu einem Teil der Gewalt. Statt uns zu fragen, wie wir keine Gewalt ausüben, müssen wir uns also eher fragen, was den wenigsten Schaden für die Welt anrichtet. Wir können einen Schaden nie zu 100 % verhindern. Schon allein dadurch, dass wir leben, zerstören wir andere Lebensformen: Wir essen – wir zerstören Lebensformen, wir gehen – und wieder zerstören wir Lebensformen. Absolute Nicht-Gewalt ist in dieser Welt unmöglich. Aber wir können uns auf jeden Fall bemühen, so wenig Schaden wie nur möglich anzurichten.
YA: Gandhi hat oft auf die Bhagavad-Gita Bezug genommen, und er steht für den Weg der Gewaltlosigkeit. Wie passt das zusammen?
Ich bewundere, dass Gandhi das Nicht-Verletzen als Strategie eingeführt hat. Er versuchte, die Gewalt abzuwenden, um Veränderungen herbeizuführen. Das ist brillant. Ich stimme jedoch nicht mit ihm überein, dass dies ein Absolutum sein soll. Absolute Gewaltlosigkeit ist, wie gesagt, gar nicht möglich. Die Natur beinhaltet Konflikte, sie beinhaltet Gewalt, dies ist unumgänglich. Wie die Upanishaden sagen, ist alles, was existiert, Nahrung für etwas anderes. Die Natur ist auf ihre eigene Art gewalttätig. Für mich geht es bei Ahimsa also darum, den Schaden so gering wie möglich zu halten, und wenn sich uns in diesem Zusammenhang Fragen stellen, müssen wir uns auf unsere eigene innere Weisheit einstimmen. An diesem Punkt kommen Yoga und Meditation zum Zuge.
YA: Die Gita gibt drei Definitionen von Yoga: Sie unterscheidet Jnana-, Karma- und Bhakti-Yoga. Ich glaube, insbesondere der Begriff Karma-Yoga wird oft völlig missverstanden. Was ist Karma-Yoga Ihrer Ansicht nach?
Ich stimme zu, dass Karma-Yoga sehr oft falsch verstanden wird. Viele Leute haben die Vorstellung, dass es dabei um Dienen geht, und dass es sich um Karma-Yoga handelt, wenn man für seine Arbeit nicht bezahlt wird. Aber das ist nicht das, was die Gita sagt, besonders, wenn man Kapitel 2, Vers 47 und 48 liest, wo die erste Beschreibung von Karma-Yoga zu finden ist. Der Schlüssel zu Karma-Yoga ist ein höheres Bewusstsein. Wenn wir Freiheit von unseren Handlungen erreichen möchten, müssen wir uns wieder mit unserer inneren Weisheit verbinden und von diesem Ort höheren Gewahrseins aus handeln. Krshna sagt das in Vers 48 sehr klar: „Festige dich im Yoga, und dann vollziehe deine Taten.“
YA: Wie stellt man das an?
Mit Meditation: Hier beginnt das Praktizieren.
Verbinden Sie sich jeden Tag mit dem höheren Bewusstsein. Ich würde sagen, dass Meditation die hauptsächliche Praxis ist, aber auch jede andere Praxis, die Sie mit Ihrem höheren Selbst verbindet, ist ein Eintrittstor in den Karma-Yoga. In Kapitel 3 und 4 eröffnet uns die Gita eine weitere Option. Dort heißt es, Handeln ist eine Form des Dienens. Wieder geht es nicht darum, ob man dafür bezahlt wird oder nicht, sondern ausschlaggebend ist der Bewusstseinszustand, aus dem heraus man handelt: ob man tief mit der höheren Weisheit verbunden ist. Wenn wir dies erfüllen, bewirken wir in der Welt einen feinen Unterschied und finden zugleich innere Freiheit.
YA:Die Idee von „Gleichmütigkeit des Geistes“ könnte man im Sinne von „Was auch immer geschieht, ist gut“ auffassen. Ist das wirklich gemeint?
Oft wird es so erklärt, dass uns gleichgültig sein sollte, ob ein gutes oder ein schlechtes Resultat zustande kommt, aber das ist weder eine gute Interpretation noch eine gute Lehre: Wie können wir unserem Umfeld gegenüber oder angesichts des Leidens anderer gleichgültig sein? Vielmehr bedeutet es, dass wir, wenn wir aus einer höheren Perspektive handeln, mehr Gleichmut aufbringen, um Ergebnisse zu akzeptieren, die wir nicht ändern können. Yoga ist die Praxis der Zentrierung und ermöglicht, auch dann zentriert zu sein, wenn die Dinge nicht so laufen wie erwartet. Das ist mit „Gleichmütigkeit des Geistes“ gemeint: Kultiviere Zentrierung, und von dieser Warte aus kannst du Dinge hinnehmen, die du nicht ändern kannst.
YA: Wenn das Handeln Teil der spirituellen Praxis werden kann, ist dann die Idee hinter Karma-Yoga die, dass jeder Augenblick des Lebens zu einer spirituellen Praxis wird und diese nicht nur auf Yoga, Meditation o.Ä. beschränkt ist? Das klingt wie eine Option für Householder.
Exakt. Das ist etwas, was ich an der Gita liebe. Sie fordert uns nicht wie andere Texte dazu auf, der Welt zu entsagen und alles aufzugeben. Stattdessen gibt sie uns Lehren an die Hand, die zeigen, wie man besser leben und seine spirituelle Praxis in die Arbeit integrieren kann.
YA: Bhakti-Yoga wird in der Gita ebenfalls erläutert. Wie wird er definiert, und warum hat er so lange gebraucht, um sich zu entfalten?
Bhakti-Yoga unterscheidet sich sehr stark von jenem Yoga, der vor der Zeit der Gita existierte. Der vorher bekannte Typus von Yoga war eher im Sinne von Jnana-Yoga zu verstehen, in dem eigenes Streben, Meditation, Askese und Entsagung als Wege zur Freiheit gehandelt wurden. Bhakti-Yoga legt den Fokus hingegen auf Offenheit, Liebe, Hingabe und eine Verbundenheit
mit dem Göttlichen in jedem Moment. Die Idee von Bhakti-Yoga war eine sehr andersartige und neue Art der Praxis. Aus diesem Grund brauchte Bhakti-Yoga, historisch gesehen, so lange, um sich herauszukristallisieren. Bhakti-Yoga schließt alle sozialen Klassen und beide Geschlechter mit ein; auch das war revolutionär im Vergleich zu den traditionellen Lehren, die von Männern dominiert wurden.
YA: Insgesamt gibt es in der Gita, wie schon angesprochen, drei verschiedene Definitionen oder Arten von Yoga. Ist eine davon besser als die anderen?
Man könnte sagen, dass die drei verschiedenen Ansätze für drei verschiedene Typen von Leuten sind. Jnana-Yoga ist für den eher traditionellen Yogi geeignet, Karma-Yoga für aktive Personen und Bhakti-Yoga für „Herzensmenschen“, für emotionsbetonte Personen. Man könnte die Systeme aber auch als komplementär begreifen. Ich mag diese Lesart mehr: Während wir unsere Meditationspraxis entwickeln, können wir auch unser Herz entwickeln, und dann kann sich das in unseren Handlungen widerspiegeln – auf diese Weise integrieren wir alle Aspekte des Yoga.
YA: Wenn Sie nur ein paar wenige Sätze über die Gita sagen sollten, was würden Sie sagen?
Am meisten gefällt mir die Transformation, die man bei Arjuna sieht. Er gerät vom Zweifel in die Depression, nicht zu wissen, was er tun soll, aber sobald er sich einer höheren Gnade öffnet, macht diese Depression den Weg frei für höhere Weisheit und Führung. Dies wiederum vermittelt ihm die Erfahrung des Göttlichen. In der Person des Arjuna zeigt sich die Transformation der dunklen Nacht der Seele zur höchstmöglichen Perspektive, und diese ist für jeden von uns möglich. Dies ist das Versprechen, das ich in der Gita sehe.
Nicole Konrad leitet das Yoga- und Ayurvedazentrum Openlotus in Köln. Dort finden immer wieder Workshops zu bestimmten philosophischen sowie auch yoga-spezifischen Themen statt. Jedes Jahr starten Yogalehrerausbildungen unter ihrer Leitung. Internet: www.openlotus.de