Das Buch „Zen-Geist – Anfänger-Geist“ von Suzuki liefert eine eindrucksvolle und verständliche Unterweisung in die Praxis des Zen. Es beschreibt die innere Einstellung bzw. Einsicht, welche die Zen-Praxis und letztendlich die Verwirklichung des eigenen „Zen-Geistes“ ermöglichen; in Meditation wie auch im alltäglichen Leben, denn es gibt keinen Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen.
Der beschriebene „Zen-Geist“ ist zugleich „Anfänger-Geist“. „Anfänger-Geist“ ist unsere wahre Natur – alle Menschen kommen mit „Anfänger-Geist“ in diese Welt, die meisten verlieren ihn aber im Laufe des Lebens wieder.
„Anfänger-Geist“ ist vielleicht am Besten zu verstehen in der Abgrenzung zum „Experten-Geist“, welcher sich bei den meisten Menschen ganz automatisch aufgrund der im Verlauf des Lebens gesammelten Erfahrungen etabliert und dadurch den „Anfänger-Geist“ verdrängt. Im Grunde genommen ist der „Experten-Geist“ zu einem gewissen Grad sogar notwendige Voraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Leben wird durch die in seinem Verlauf aufgrund von Erfahrungen erstellten „Schubladen“ strukturierter, teils leichter und unter Umständen auch sicherer. Anders ausgedrückt: „Durch Erfahrung wird man klug“.
Das, was nach dieser Auffassung für Klugheit gehalten wird, nämlich der Glaube, aus Erfahrungswerten (immer) ableiten zu können, wie sich eine Situation entwickeln wird, nimmt einem aber tatsächlich meistens die Offenheit, neuen Situationen unvoreingenommen zu begegnen, also mit „Anfänger-Geist“.
Der dem „Experten-Geist“ gegenüberstehende „Anfänger-Geist“ meint die Offenheit, jeder Situation die Möglichkeit zu geben, sich in jede erdenkliche Richtung zu entwickeln.
„Zen-Geist“ oder „Anfänger-Geist“ ist auch ein vollkommen freier Geist. Frei, sich in jedem Augenblick neue Pfade zu erschließen gleich einem Fluss, der sich bei Hochwasser nicht mehr im Flussbett bewegt, sondern über die Ufer des etablierten Pfades tritt und sich dadurch in alle Richtungen neues Territorium erschließen kann. Das dauerhafte, eingefahrene und damit eingeschränkte Selbst ist eine Illusion – jede Existenz ist in ständigem Wandel begriffen.
Durch Annahme dieser Tatsache kann sich auch das Leiden verringern, welches entstehen kann, wenn man an aus alten Erfahrungen gewonnenen Erwartungen festhält und sich dadurch in sich immer wiederholenden (negativen) Strukturen bewegt oder diese Erwartungen nicht erfüllt werden.
Die aus solchen Gedankenstrukturen entstehenden Erwartungen an das Resultat einer Situation oder einer Handlung bedeuten nicht nur ein Unfreisein in der Zukunft, sondern auch eine Missachtung des jetzigen Augenblicks. Solange die Gedanken in der Zukunft (oder auch der Vergangenheit) weilen, läuft man Gefahr, die Schönheit und Möglichkeiten des gegenwärtigen Moments nicht wahrnehmen zu können. Der sich immer wieder überraschen lassende „Anfänger-Geist“ ist eng verbunden mit dem Leben im Hier und Jetzt, vielleicht sogar dessen Voraussetzung. Nur wenn man Anhaftungen der Vergangenheit loslässt, vollkommen offen ist für kommende Erfahrungen und Eindrücke, kann man sich im Hier und Jetzt bewegen und den Augenblick als das schätzen, was er ist. Das Leben in der Wirklichkeit der Gegenwart, frei von Anhaftungen und Erwartungen, ist gekennzeichnet durch einen gelassenen, annehmenden, wachen, achtsamen und die ursprüngliche Natur der Dinge erkennenden Geist.
„Anfänger-Geist“ ist leer. Und wird dadurch aufnehmend – und in gleichem Maße wieder abgebend, um Raum zu schaffen für neue Eindrücke. Wie der Atem, der einen durchströmt. Nur durch vollständige Ausatmung kann man wieder Platz schaffen und neue, unverbrauchte Atemluft in sich aufnehmen. Ein ständiger Austausch.
Die Ausführungen Suzukis zur Zen Praxis, z.B. über die Qualitäten des „Anfänger-Geistes“ und der Bedeutung des Hier und Jetzt sind auch für die Yoga-Praxis von großer Bedeutung.
Nicht selten geht die anfänglich vielleicht bestehende Einstellung von Offenheit einem Asana gegenüber, welches man noch nicht praktiziert hat, durch Wiederholung verloren. Aber wenn man es schafft, beim Üben von Asanas den „Anfänger-Geist“ zu bewahren, öffnet man sich viele Türen zu neuen Erfahrungen. Wenn man keine Erwartungen an ein Asana stellt – wie es aussehen soll, wie es sich anfühlen soll – dann ist man in seiner Praxis viel freier und aufmerksamer, und kann jedes Asana immer wieder neu für sich entdecken und sich überraschen lassen. Das ständige Üben als Anfänger versetzt den Übenden erst in die Lage, wahrhaftig zu lernen. Dann kann man auch frei von jedem körperlichen oder mentalen Ehrgeiz üben, und bei der Praxis ganz bei sich sein. Im Innern, bei sich, mit Körper und Geist im Hier und Jetzt. Man praktiziert nicht, um etwas zu erreichen, sondern um das jeweilige Asana – und sich selbst im Asana – zu entdecken. Es ist nicht notwendig, vollkommen zu vergessen, wie die letzte Praxis war, aber man soll nicht daran bzw. an einem einmal erzielten Fortschritt festhalten und erwarten, beim nächsten Mal an genau diesem Punkt zu beginnen. Stattdessen beginnt man jedes Mal neu.
Denn sobald man glaubt, etwas genau zu kennen, wird man unaufmerksam und läuft Gefahr, seine Aufmerksamkeit zwischen der Praxis und anderen Dingen aufzuteilen. Man ist nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern opfert vielmehr seine jetzige Praxis für ein Ideal in der Zukunft.
Wie viel schöner ist es nicht auch, jede Form, die ein Asana einnimmt, willkommen heißen und wertschätzen zu können, als Ausdruck des Selbst und gleichzeitig als Lehrer für das Selbst. Dies ist nicht nur wahr für die Asanapraxis, sondern für alle Aspekte des Lebens.
Was man vorher vielleicht als Einschränkung empfunden hat, begrenzt einen ohne Erwartungshaltung auch nicht mehr. Dualismus löst sich auf. Man übt nicht mehr ein Asana, man ist das Asana, in Körper und Geist, in voller Hingabe durch Aufgabe des Selbst in non-dualistischem Verständnis des Seins: „Wenn ihr etwas tut, wenn ihr euren Geist mit einigem Vertrauen fest auf die Aktivität richtet, ist die Beschaffenheit eures Geisteszustands die Aktivität selbst.“
Das rechte Bemühen, d.h., Yogapraxis ohne die besondere Anstrengung, etwas zu erreichen, bringt Geist und Körper als zwei Seiten einer Münze wieder zusammen. Wenn man in diesem rechten Bemühen übt, ist es tatsächlich unerheblich, wie gut man eine bestimmte Haltung erreichen kann. Es gibt kein gutes Asana, kein schlechtes Asana.
Dieses Nichtausrichten der Praxis auf ein bestimmtes Ziel und das Bewahren des „Anfänger-Geistes“ bewirkt auch, dass die Praxis im täglichen Leben nach- und fortwirkt und nicht mit dem Verlassen der Yogamatte endet.
Buchreport von Daniela Meier – Absolventin der Yogalehrer Ausbildung bei Openlotus – die Yogaschule in Köln