WARUM ICH? VERSUS: WARUM ICH NICHT?
Als ich 39 Jahre alt war, wurde bei mir eine chronische Auto-Immunkrankheit diagnostiziert (Typ 1 Diabetes). Nach dem ersten Schreck über die Tatsache, nun „chronisch krank“ zu sein, folgten sofort eine Menge von Emotionen und Überlegungen.
Warum greift mein Körper sich selbst an? Wieso ich? Ich, die gerne belächelt wird, da ich mich „so gesund“ ernähre und ein wenig als Gesundheits-Öko-Tante verschrien bin. Ich, die doch „alles richtig“ gemacht hat – immer Bewegung und Sport, viel Yoga, wenig Alkohol etc… Soll das umsonst gewesen sein? Wo ist mein „Lohn“? Ist es eine Strafe, oder eine Prüfung, oder einfach nur ungerecht?
Ich war wütend, beleidigt und fühlte mich „von der Welt“ ungerecht behandelt. Ich war auch böse mit meinem Körper, da er nicht „richtig“ funktionierte und seinen Job nicht machte. Ich hing also im Krankenhaus herum und dachte: „hier gehörst du nicht hin“! Aber, warum eigentlich nicht? Wieso stellt man in solchen Situationen eher die Frage nach dem „WARUM ICH?“ statt nach dem „WARUM NICHT AUCH ICH“? Was berechtigt mich zu der Annahme, dass bestimmte Dinge nichts für mich sind, bzw. mir nicht passieren?
An dem Wochenende, als ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, unterrichtete ich gerade eine Yogalehrer-Ausbildung. Unser Thema war die Bhagavad Gita. Sehr vereinfacht gesagt lehrt sie die Grundidee: „Tu, was richtig ist. Entscheide und agiere im Moment der Handlung aus dem Wissen der Wahrhaftigkeit heraus, und nicht in Erwartung zukünftiger Früchte. Handle ohne Verlangen und ohne Anhaftung an ein Ergebnis.“
Oh ja, das lässt sich leicht sagen – und schwer leben! Mir viel auf, dass ich in Bezug auf meine Gesundheit sehr wohl die „Früchte meiner Arbeit“ erwartet hatte, und mich nun darum betrogen fühlte. Irgendwie hatte ich innerlich mit der Schöpfung einen Deal vereinbart – ich tue dies und das und versuche ein „guter Mensch“ zu sein, dafür bekomme ich XY. Nun ja, die Schöpfung hatte nie geantwortet und auch keinen Vertrag unterzeichnet. Aber irgendwie hatte ich erwartet, dass mein Vertragspartner (die Schöpfung) das genauso sieht wie ich, und dass wir uns einig sind.
Mir fiel auf, was für Glaubenssätze mir diese Situation offenbarte: Glaube ich wirklich, dass die Schöpfung/Gott oder wie auch immer ich es nennen mag, mit mir einen Deal hat und mich begünstigt bzw. bei Mißfallen bestraft? Glaube ich wirklich, ich könnte mich „freikaufen“, wenn ich „alles richtig“ mache? Was steckt hinter meiner Erwartung, bestimmte Dinge und Erfahrungen als schlecht zu bewerten, und diese nicht haben zu wollen?
Nun, hier war sie also – unausweichlich. Die Situation, die mir half, zu sehen, was für ein begrenztes Bild ich lebe, wie sehr ich von Erwartungen geprägt bin und wie wenig ich in der Lage bin, wirklich das SEIN in seiner Ganzheit einzuladen.
Worte wie SEIN und GANZHEIT DER SCHÖPFUNG sehen auf den ersten Blick vollkommen positiv aus. Man beschreibt das EINE als VOLLSTÄNDIG, denn nur so kann es GANZ sein. Betrachtet man diese Worte aber genauer, dann muss man anerkennen, dass im GANZEN eben auch ALLES drin ist. Die FÜLLE wäre unvollständig, wenn sie nur die eine Hälfte der Medaille enthält. Im EINEN muss es hell und dunkel geben, Tag und Nacht, gesund und krank, Tod und Lebendigkeit – und ebenso alles dazwischen. Das EINE ist sowohl etwas ganz Bestimmtes, wie auch alles andere was gerade nicht bestimmt ist.
Es ist so einfach, die Schöpfung in Form von Schönheit und Anmut zu sehen. Viel schwerer fällt einem diese Sicht in Bezug auf die ganz normalen Dinge und Gegebenheiten – und noch viel schwerer wird es bei solchen Ereignissen, die wir als unwillkommen, schmerzhaft oder hässlich bezeichnen.
Ich saß da und fragte mich, ob ich praktiziere, damit ich etwas bekomme oder fernhalten kann – oder ob ich es wirklich ernst meine mit der Idee, die Schöpfung in seiner Ganzheit erfahren zu wollen und das SEIN durch mich hindurch strömen zu lassen. Hier war ein Moment – im Grunde wie jeder andere auch –, der sich anbot, in seiner ganzen Fülle willkommen geheißen zu werden. Kann ich mich auch dazu öffnen? Habe ich die Fähigkeit, mit dem SEIN zu sein? Kann ich wirklich willkommen heißen was kommt, und willkommen heißen, was geht? Kann ich ankommen im SEIN und nach meiner Verantwortung im JETZT fragen? Was kann ich zu diesem Moment beitragen, anstatt mich mit Schuldfragen und Ablehnung aufzuhalten? Kann ich meine Arbeit tun – manchmal ist es „nur“ Akzeptanz – und die Früchte dem anvertrauen, das größer ist als ich selbst?
Die Yogaphilosophie postuliert auch, dass alles was ist, Aspekte des Ganzen darstellt. Dadurch dass etwas Form annimmt, definiert es sich und begrenzt sich dadurch auch. Das gilt für Form ebenso wie für Energie, für blonde oder schwarze Haare, für angenehme Phasen im Leben oder für schwere Zeiten. Nichtsdestotrotz ist und bleibt einfach Alles-was-ist ein vollkommenes Teil des Ganzen. So, wie der Tropfen des Ozeans nichts anderes ist, als Teil des großen Meeres – und in dem einen Tropfen ist das ganze Meer enthalten. Das mit dem Tropfen verstehe ich – total logisch😊 Aber wie sieht es bei mir aus? Bin ich in meiner Essenz auch „richtig/ganz“ trotz meiner Beschränkungen? Bin ich ebenso wert trotz meiner Fehler, Unvollkommenheiten und Dinge, die ich als Mangel bezeichne? Anders gefragt: ist man „richtig“ auch wenn man z.B. krank ist?
In der Yogawelt tauchen manchmal Ideen auf, die unterstellen, dass gewisse Dinge nicht auftreten würden, wenn man es „richtig“ gemacht hätte, oder gewissermaßen keine „karmische Schuld“ angesammelt hätte.
Hmm … ich weiß nicht. Diese Sicht auf die Welt unterstellt, dass bestimmte Ausformungen/Entwicklungen unvollständig seien – unwertiger als andere. Diese Sicht unterstellt, dass nur bestimmte Ausformungen „richtig/ganz“ sind und andere mit Mängeln behaftet. Außerdem führt diese Sicht unweigerlich zu einer Schuldzuweisung und Perspektive der Scham. Ich halte all das für mehr als fraglich! Ist es nicht vielmehr so, dass wir lernen sollten, die Perspektive zu erweitern? Dass wir das EINE einfach in jeder Form sehen können, die sich zeigt. Ein Baum, der krumm gewachsen ist, ist genau das: ein Baum der krumm gewachsen ist. Punkt. Er ist in seiner Form genau so, und in seiner Essenz nichts anderes als SEIN. Er ist nicht wertiger oder Gott/der Schöpfung näher als der Baum, der gerade gewachsen ist. In seiner Essenz ist alles nichts anderes als Schöpfungskraft – nichts steht dem EINEN näher als etwas anderes, nichts ist wertiger oder besser als etwas anderes.
Das Einzige, was ich versuchen kann, ist mich darin zu üben, meinen Geist zu schulen. Es geht darum, diesen zutiefst akzeptierenden und gütigen Blick zu entwickeln und wirklich willkommen zu heißen, was ist. Finde ich diese Akzeptanz auch mir selbst gegenüber, erlaube ich mir, in meine Kraft zu treten, zu SEIN und zu strahlen – in der Wahrhaftigkeit dessen was IST.
Kann ich mein Sein akzeptieren, anerkennen und wahrhaftig betrachten (nichts wegdrücken, negieren, verneinen, hassen) und von dem Ort des „Ja!“ heraus handeln? Erst durch den Akt der tiefen Verbindung in das SEIN kann ich wirklich Verantwortung übernehmen und von dort aus agieren. Akzeptanz macht keinesfalls tatenlos – im Gegenteil! Sie ermächtigt uns zur Teilnahme am großen Ganzen – aufrichtig, tief verbunden und ehrlich.
Ich nutze gerne das Mantra: „Willkommen heißen was kommt, willkommen heißen was geht!“ oder auch: „auch das…. auch das… auch das….“. Ich versuche mich zu erinnern, dass ich sowohl die „Geschenke“ des Lebens empfangen darf, als auch die „Herausforderungen“ einlade. Und vielleicht kann sich sogar mein Verstand erweitern, und damit aufhören, das eine als „gut“ (Geschenk) und das andere als „schlecht“ (Herausforderung) zu bezeichnen, und statt dessen erkennen: Es ist einfach das Leben, das Sein in all seinen Ausformungen!