Teil 1 der Meditationsserie: Nicht-Denken ist nicht das Ziel – von Nicole Konrad
Link zur Veröffentlichung: Yoga Deutschland Nr. 9 · Ausgabe September/Oktober 2014
Nicht-Denken ist nicht das Ziel
Achtsamkeitspraxis ist ansteckend – schließlich lässt uns das Meditations-Virus nicht mehr los, wenn man einmal entdeckt hat, was Gegenwärtigkeit mit den eigenen Gedanken macht – auch nachdem das Sitzkissen weggeräumt ist.
Zuletzt rief jemand in meiner Yogaschule an, um sich über Yoga zu informieren. Er sagte, er wolle sich von seinen Rückenschmerzen befreien. Andere Sportarten wolle er nicht mehr machen, da er immer zu viel Ehrgeiz entwickelt und Sport für ihn immer in einer Art Wettkampf endet. „Deswegen möchte ich Yoga probieren. Da gibt es so was wie einen Wettkampf doch nicht, oder?“ Der Anrufer hatte recht – und auch wieder nicht. Ja, beim Yoga geht es nicht um die Frage, wer besser ist. Und nein, denn seinen „Kopf“ bringt er natürlich auf die Yogamatte mit. Wer auch immer wir sind, unsere Muster, Sorgen, Freuden und Ängste begleiten uns überall hin. Vollkommen unabhängig davon, womit wir uns gerade beschäftigen oder welche Sportart wir üben. Das, was den Unterschied macht, ist die Gegenwärtigkeit und Achtsamkeit in jedem Augenblick.
Genau das ist eine Definition von Meditation: Bewusstheit in jedem Moment, Atemzug für Atemzug. Ruhig auf einem Kissen sitzen und atmen – dieses Bild assoziieren die meisten mit Meditation. Hat man dies selbst auch nur einmal kurz ausprobiert, hat man es womöglich geschafft einfach nur still zu sitzen. Aber die Gedanken waren alles andere als ein „ruhiges Verweilen im Augenblick“. Vielmehr wird man beobachten, wie rastlos der unablässig denkende Geist ist. Selbst das Sitzen kann eine große Herausforderung sein. Meldet sich doch prompt ein juckender Arm oder ein eingeschlafenes Bein. Und das Bedürfnis, sich zu bewegen, wird nahezu übermächtig. Stellt sich die Frage: Geht es beim Meditieren einfach nur ums stille Sitzen oder darum, die Gedanken anzuhalten? Die allererste gute Nachricht: Nicht-Denken ist nicht das Ziel. Meditation möchte uns schulen, gegenwärtig im Augenblick zu sein oder – anders ausgedrückt – im beständigen Fluss des Wandels zu verweilen. Zuerst beobachten wir beim Meditieren den immerwährenden Gedankenfluss. Ein Gedanke taucht nach dem anderen auf, eine Idee führt zur nächsten.
Viele Meditationstechniken schlagen als Konzentrations-Anker den eigenen Atemrhythmus vor. Beobachtet man diesen, mag beispielhaft Folgendes passieren: Ein Auto fährt hörbar vorbei und schon schweifen die Gedanken ab. „Wann habe ich eigentlich mein Auto getankt? Gleich, wenn ich unterwegs bin, kann ich das erledigen. Ach, neben der Tankstelle ist der Supermarkt. Da kann ich die Tomaten kaufen, die ich heute morgen vergessen habe …“ Irgendwann erinnert man sich, was man eigentlich gerade tut: „Ach ja, der Atem, ich bin abgeschweift, also gut, einatmen, ausatmen …“ Und wenig später ist der Geist wieder mit etwas anderem beschäftigt und ersinnt eine weitere Kette von Gedanken. Man mag nun frustriert schlussfolgern, dass Meditation mit diesem Geist wirklich nicht möglich ist. Es schier unmöglich scheint, auch nur eine Minute konzentriert zu bleiben. Ich selbst wunderte mich anfangs, ob ich mit dieser Erfahrung alleine bin. Schien es doch so, dass meine Mit-Meditierenden gelassen da saßen und offenbar ruhig mit ihrem Geist verweilten, während mein Geist ständig abschweifte und mit mir einen inneren Dialog hielt.
Die zweite gute Nachricht: Diese Erfahrung machen fast alle Meditations-Neulinge. Dann hilft es, sich selbst einzugestehen, wie rastlos der Geist ist und wie wenig Einfluss wir auf das haben, was sich im Kopf abspielt. Wir alle haben einen solchen Geist, der – zumindest zu Beginn – sprunghaft und vollkommen undiszipliniert ist. Und genau mit diesem Geist beginnt die Praxis. Jetzt und hier. Dazu brauchen wir keine besonderen Lebensumstände, wir dürfen gestresst und sorgenvoll sein, Kummer haben oder knapp an Zeit sein. Denn die Praxis beginnt aufrichtig mit dem Anerkennen des Augenblicks. Der Freuden wie auch der Schatten. Der Wünsche und Ablehnungen. Der Ambitionen und Überzeugungen. Und mit dem Erkennen der unzähligen Selbstbilder. Meditieren ist eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Nur wenn ich mich selbst kenne, kann ich mittelfristig Veränderungen erreichen. Viele unserer Gedanken können als Pläne identifiziert werden. Wann immer diese auftauchen – wie in dem oben genannten Beispiel, die vom Auto zu den Tomaten führten – kann man innehalten. Sich sagen, „ich plane, ich plane“ und zurückkehren zu dem, was als Fokus gewählt wurde. Sehr häufig werden Gedanken aufsteigen, die tiefer reichen und mit Emotionen oder Bildern behaftet sind. Um sich diese bewusst zu machen, helfen die sogenannten fünf Kleshas weiter, die in der Yoga-Philosophie als die „den Geist trübende Leidenschaften“ benannt werden: Avidya (Unwissenheit), Asmita (Identifizierung), Raga (Wunsch), Dvesha (Ablehnung), Abhinivesha (Furcht). Das Erstaunliche an den Kleshas: Die Beobachtung der eigenen Denkvorgänge wird einen erkennen lassen, dass überwiegend einer dieser Punkte die Gedanken beherrscht.
Avidya kann als das Ergebnis aller bislang angehäuften Erfahrungen erklärt werden. Damit ist gemeint, dass man in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Art reagiert hat. Bei der Wiederholung einer ähnlichen Situation wird man wahrscheinlich gleich handeln. Statt zu bemerken, dass dies ein neuer Moment mit anderen Umständen ist, fällen wir Urteile und Bewertungen aufgrund alter Strukturen und Erfahrungen. Anstatt offen zu sein für genau diesen Augenblick. Ein einfaches Beispiel: Als Kind habe ich mich eines Abends an dem bis dato heiß geliebten Schafskäse übergegessen. Die folgende Nacht verbrachte ich mich übergebend. Das Ergebnis: Ich mochte diesen Käse nicht einmal mehr riechen. Schon der Anblick erzeugte „Fluchtreflexe“ in mir und ich brauchte Jahre und viele Versuche mit kleinen Mengen Käse, bis dieses Lebensmittel wieder auf meiner Speisekarte Platz fand. Ich musste meinem Körper beibringen, dass dieser Käse nicht generell „giftig oder schädlich“ für mich war, sondern dass diese eine Erfahrung eine Ausnahme darstellte. Zugegeben, es spielt keine größere Rolle, ob ein Lebensmittel mehr oder weniger gemocht wird oder nicht. Doch was ist mit unseren inneren Verletzungen und unzähligen Prägungen? Möglicherweise hatte ich eine schlechte Erfahrung in einer meiner vorangegangenen Beziehungen. Bei der Wiederholung einer ähnlich gelagerten Situation werde ich unbewusst erwarten, dass diesmal genau das Gleiche geschieht. Jedoch ist es eine andere Situation, ein anderer Kontext, andere handelnde Personen, ein vollkommen neuer Moment. Gelingt es mir hingegen, gegenwärtig zu sein, fällt mir möglicherweise auf, dass ich eine „alte“ Meinung abrufe. Und an dieser Stelle kann ich zumindest hinterfragen, ob dem wirklich so ist oder ob ich nur eine Erinnerung abrufe, anstatt jetzt und hier offen zu sein für genau diesen Augenblick. Lässt man sich darauf ein, wird man überrascht sein, was für spannende, neue Geschmacksrichtungen das Leben zaubert – auch wenn es die alt bekannten Zutaten zum Kochen benutzt.
Asmita beschreibt alle Belange, die mit Selbstidentifizierung zu tun haben, welche sich sowohl in Selbstbezogenheit als auch – auf der anderen Seite des Spektrums – in Minderwertigkeit äußern können. Zu bemerken, dass man immer der Beste sein möchte, Wettkämpfe sucht und äußere Bestätigung verlangt, sind Anzeichen dafür, dass man in diesem Augenblick in selbstzentrierter Identifikation verhaftet ist.
Raga kann als Begierde verstanden werden – dem Wunsch, immer mehr haben zu wollen. Natürlich kann sich dieses Verlangen in der Anhäufung oder dem Begehren von materiellen Gütern zeigen. Jedoch auch in der Idee, dass mit dem, was man hat, Bestimmtes nicht erreicht werden kann oder nicht möglich ist. Es sind diese Wenn- Dann-Gedanken und Bedingungen, die gestellt werden: Wenn ich nur diesen anderen Job hätte, dann… Mit diesem Kleidungsstück würde ich mich schön finden… Meist steht jedoch das Objekt der Begierde nicht zwischen uns und dem Glück. Wie oft hat man sich eine neue Hose oder Jacke „gegönnt“ und fand sich letztlich doch nicht schön? Unzählige Male. Und immer wieder fällt man darauf rein und glaubt, dass dieses eine Objekt der Begierde noch fehlt – sei es Kleidung, Erfolg, eine andere Wohnung, ein anderer Partner oder eine weitere Fähigkeit. Und dann endlich wäre alles vollkommen. Leider funktioniert das so nicht. Begehren kennt kein Ende. Es sei denn, ich entdecke in mir das, wonach ich tatsächlich verlange. Oft ist es Anerkennung, der Wunsch, etwas Besonderes zu sein, das Bedürfnis, sich zu belohnen oder eine Ersatzbefriedigung zu schaffen. Erkennt man die wahre Motivation hinter dem Wunsch, zerplatzt das Begehren. Man erkennt, dass auch die zehnte Hose nicht schöner macht. Es sei denn, es gelingt, sich aufrichtig anzunehmen und selbst zu lieben.
Dvesha ist das Gegenteil von Raga und bedeutet Ablehnung. Während der Meditation wird man dauernd mit Ablehnung konfrontiert. Während ich versuche, konzentriert ein- und auszuatmen, macht der Nachbar mit seiner Bohrmaschine Krach. Nicht, dass es sowieso schon schwer genug ist sich zu konzentrieren. Der Lärm reißt einen vollends aus der Stille und macht Versenkung unmöglich. Aber was wäre, wenn ich in einem ruhigen Raum üben würde, kein Geräusch zu mir dringt und mich nichts ablenkt? Umso „lauter“ hörte ich meinen Geist, meinen inneren Dialog. Der „innere Lärm“ kann erheblich lauter sein als alles, was von außen zu uns dringt. Meditation versucht zu lehren, mit dem zu bleiben, was ist. Ob laut oder leise, angenehm oder unangenehm. Ich habe die Möglichkeit, trotzdem in mir Stille zu finden. Es geht um die Akzeptanz der Dinge, die ich nicht verändern kann. Egal, ob die Sonne scheint oder ein Regentag wartet – ich kann dem Morgen freudig begegnen.
Das letzte Klesha ist Abhinivesha, jede Form von Furcht. Besonders beim geistigen Planen werden wir dieser Angst begegnen. Gerade, wenn in uns der Wunsch nach einer Veränderung im Leben aufsteigt, gibt es den ewigen Pessimisten in uns. Dieser malt sich Szenarien aus, was passieren könnte und weswegen man es am besten gleich sein lassen sollte. Natürlich gibt es bei allem Risiken, die es zu berücksichtigen gilt. Gemeint ist nicht, sich Hals über Kopf in jedes Abenteuer zu stürzen. Doch sollte man sich immer hinterfragen, ob die Angst die Entscheidungen trifft. Denn sehr häufig ist es sogar „nur“ die Angst vor Veränderung. Wenn Meditation als Gegenwärtigkeit im Augenblick verstanden wird, stellt es eine Praxis dar, die uns dauerhaft begleiten kann. Übe ich gerade Yoga, erkenne ich vielleicht, wie der „alte Freund“ Ehrgeiz auftaucht und versucht, mich anzustacheln. Statt wie gewohnt im Wettkampf zu enden, kann ich – sobald es mir auffällt – innehalten und versuchen, diesem Muster nicht nachzugeben und mich stattdessen in Geduld, Akzeptanz und Selbstliebe üben. Ich kann mich fragen, warum dieser Wunsch in mir besteht, immer der oder die Beste sein zu wollen. Wem will ich etwas beweisen? Bin ich mir selbst nicht genug? War ich meinen Eltern nie genug? Habe ich das Gefühl, sonst nicht gesehen zu werden? Die Motivationen können vielschichtig sein und bedürfen einer vorurteilsfreien Begegnung mit dem eigenen Selbst. Achtsamkeitspraxis kann somit zum dauerhaften Begleiter werden.
Meditation ist Gegenwärtigkeit, von Augenblick zu Augenblick. Atemzug für Atemzug, Schritt für Schritt. Ich darf nicht den Berg sehen, den ich erklimmen soll, sondern immer diesen einen Moment, den jetzigen Schritt. Stelle ich mir die Aufgabe, von nun an für immer achtsam zu sein, ist das Unterfangen schon zum Scheitern verurteilt. Unzählige Male wird man abschweifen und sich ablenken lassen. Aber mit der Zeit gelingt das Meditieren besser: So wie man einen Muskel trainiert, wird es gelingen, auch besser mit dem Geist und dem eigenen Selbst zu sein. Die Was-denke-ich-Meditation Setze oder lege dich bequem hin und beobachte deinen Atem. Sobald Gedanken auftauchen, benenne ihre Qualität statt mit ihnen abzuschweifen: „Ich plane, ich plane.“ „Ich höre, ich höre.“ „Ich urteile, ich urteile.“ „Ich fühle, ich fühle.“ Danach kehre zu deinem Atem zurück. Übe dies gerne täglich für etwa 15 Minuten.
Tipp: Stelle Dir dabei unbedingt einen Timer, damit dein Geist nicht mit der Frage beschäftigt ist, ob die Zeit schon verstrichen ist.
Link zu Teil 2 der Meditationsreihe mit Nicole Konrad
Link zu Teil 3 der Meditationsreihe mit Nicole Konrad
NICOLE KONRAD
Auch für die Yogalehrerin ist Meditation eine alles andere als einfache Praxis. Aber egal, „Atemzug für Atemzug einfach das Beste versuchen“ – das ist ihr Motto. Mehr zu ihr und ihrem Kölner Yogastudio unter www.openlotus.de.