In diesem Jahr (2020) war und ist die „stille Zeit“ für die meisten von uns vermutlich intensiver und stiller als sonst. Aber auch in normalen Jahren bieten Rituale wie die Rauhnächte, Friedhofs-/Kirchenbesuche, Jahres-Rückschauen, Familienfeiern und Neujahrs-Orakel Anlass, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und das was IST infrage zu stellen.

Zur inneren Einkehr kommt zumeist auch die Begegnung in der Familie oder im Freundeskreis, bei der neben harmonischer Eintracht alle Jahre wieder manchmal auch verletzende Sprüche, Hierarchie-Hackordnungen und Hahnenkämpfe vorkommen.

Gerade das sind goldene Gelegenheiten, bestehende Glaubenssätze zu hinterfragen, wie zum Beispiel dieser:

Ich kann vielleicht nicht auswählen, was andere tun und sagen, aber ich habe die Wahl, wie ich darauf reagiere – zumindest aber, ob und wie ich antworte.

Ist dem wirklich so? Ist nicht vielmehr der Glaube daran, dass ich eine Wahl habe, dass ich einen »freien Willen« habe, eine Illusion? Der Sanskrit Gelehrte Christopher Hareesh Wallis analysiert genau das in einem seiner Texte zu den »nahen Feinden der Wahrheit«.

Die Realität zeigt etwas anderes …

Beinahe alle unsere Handlungen basieren auf Gedanken, Wünschen und Ängsten – ob uns diese bewusst sind, oder, was meistens der Fall ist, unbewusst (letztere nennen wir »Konditionierung« oder »Programmierung«). Unsere Gedanken, Wünsche oder Ängste aber wählen wir nicht selbst aus, sie entspringen Gründen und Umständen, die wir nicht bestimmt haben, die einander aber wie in einem riesigen Netzwerk bedingen. Dieses Netz heißt im Sanskrit Samskara, das Gesetz von Ursache und Wirkung. Du kannst nicht entscheiden, was du denkst bevor du denkst. Gedanken tauchen spontan auf und verschwinden wieder wenn du ihnen nicht weiter folgst. Wenn du einen Gedanken wählen könntest bevor du ihn denkst, würdest du ihn ja bereits denken. Dasselbe gilt für deine Meinungen und Ansichten, auch sie sind ein Produkt deiner Konditionierung, deiner Lebens-Erfahrungen und verinnerlichten sozio-kulturellen Erzählungen.

Ein offensichtlicher Beweis für das Fehlen eines freien Willens ist die einfache Tatsache, dass du eben nicht in einem ständigen Zustand von glückseliger Freude und Leichtigkeit bist, und dass du zumeist wenig Kontrolle über deine Reaktionen und Antworten hast.

Leben heißt Entscheidungen treffen

An einen freien Willen zu glauben macht uns weniger mitfühlend mit uns selbst und anderen, weniger geduldig, weniger freundlich, es verstärkt unseren Widerstand gegenüber der Realität. Obwohl also unser Wille weit weniger frei ist als wir denken, gibt es dennoch keinen Grund für Fatalismus. Leben bedeutet unterscheiden, entscheiden, wählen, in jedem Augenblick – und dann mit den Folgen der Entscheidung zu leben. Vielmehr befreit dich dieses Wissen von einigen Sorgen, von Selbst-Verurteilung und von der Angst, die »richtige Wahl« treffen zu müssen, ebenso von beständigen Denkschleifen darüber, was gewesen wäre wenn du ehemals eine andere Entscheidung getroffen hättest. Du be- und verurteilst weder dich noch andere für ihre Entscheidungen und Handlungen. Du bist wirklich frei von der Annahme, dass du oder jemand anderes überhaupt jemals in der Vergangenheit groß eine andere Wahl gehabt hätte. Und du hörst auf zu glauben, dass du in der Zukunft eine falsche Wahl treffen könntest. Du verstehst, dass du aus all den Optionen, die dir in den Sinn kommen nur das tun kannst, was sich für dich als die beste Wahl darstellt.

Gewahr-Sein können wir trainieren

Das gleiche gilt für deine Reaktionen. Die Verfügbarkeit einer Antwort, die von deiner ersten, spontanen, konditionierten Reaktion abweichen könnte, hängt stark davon ab, wieviel Zeit und Arbeit du damit verbracht hast, dich selbst zu re-konditionieren, wie eng oder weit dein Tellerrand reicht, und wie stark bzw. wie verletzlich dein ICH-Gefühl ist. Wenn wir uns in Gewahr-sein üben eröffnen sich zunehmend alternative Gedanken und Verhaltensweisen. Wenn wir uns unserer Gedanken und Denkmuster bewusst werden und lernen, diese mit einem kleinen Abstand zu betrachten. Wenn es gelingt, kleine Pausen vor eine Reaktion zu setzen (tief Luft holen, bis 10 zählen), wenn du einen Augenblick überlegst, bevor du sprichst oder handelst, wenn du dir gewahr wirst, welcher Art deine Gedanken sind (s. Meditation 6). Immer häufiger wirst du in der Lage sein, deinen Gedanken bewusst Glauben zu schenken oder eben sie zu verwerfen. Mehr und mehr wirst du anderen ihre unbewussten verletzenden Aktionen spontan vergeben (denn du weißt dass sie nicht anders konnten in diesem Augenblick). Du wirst zunehmend entspannter und offen für das was ist, anstatt Widerstand zu leisten.

Wir können uns bei den kleinen Gelegenheiten darin üben, unseren »freien Willen« zu trainieren und unsere weniger freien Muster zu erkennen. Damit wir auch bei den großen Entscheidungen im Leben frei wählen können, aus tiefster Überzeugung und unserem wahren Kern heraus, aus einer guten Mischung von eigener Lebenserfahrung, unterschiedlichen Ansichten und Blickwinkeln, mit entspannter Gelassenheit und mit einer gewissen Portion an Weitsicht, die die Folgen unserer Denkweisen und Handlungen einschließt.

Lies zu diesem Thema auch den Beitrag »Hör auf dein Herz« …


Eine geführte Achtsamkeits-Übung findest du hier! Dieser Beitrag ist, wie die meisten Texte hier, Grundlage für den theoretischen Teil meiner Yoga-Stunden. Wenn Du Interesse hast daran teilzunehmen, schreib mir gerne eine eMail.


Inspiriert von Christopher Hareesh Wallis, »Die nahen Feinde der Wahrheit #11 You can choose how to respond«

Brigitte Heinz, Yogalehrerin YA + Anusara Elements, Grafikerin